
Es ist ein merkwürdiges Bild. Ein Gedanke, der sich widerspricht – und doch so viel über unsere eigene Welt verrät: Ein Fisch, der zu ertrinken droht.
Wie oft hast du das Gefühl, eingreifen zu müssen? Jemandem zu helfen, etwas zu reparieren, Dinge in die «richtige» Richtung zu lenken? Wie oft treibt dich das Bedürfnis, die Kontrolle zu behalten, dazu, in das Leben anderer oder in dein eigenes Schicksal einzugreifen – aus Angst, was sonst noch alles schiefgeht?
Die Balance des Lebens
Als ich noch klein war, hat mir jemand gesagt, dass jeder Mensch mit zwei Flügeln zur Welt kommt. Der eine Flügel wird von einer höheren Kraft ständig in Bewegung gehalten – nenne diese Kraft das Leben, das Universum oder den lieben Gott. Dieser eine Flügel flattert unaufhörlich, und sorgt dafür, dass wir getragen werden, dass sich Wege eröffnen, dass uns Gelegenheiten begegnen.
Doch um wirklich zu fliegen, braucht es den zweiten Flügel. Und dieser liegt in unserer eigenen Verantwortung. Diesen zweiten Flügel müssen wir selbst in Bewegung setzen. Ohne unser Zutun bleiben wir am Boden – nicht, weil das Leben uns im Stich lässt, sondern weil wir unseren Teil der Bewegung verweigern.
Fliegen erfordert jedoch nicht nur Bewegung, sondern auch Balance. Wer glaubt, dass allein sein eigener Flügel für den Auftrieb sorgt, wird bald merken, dass er erschöpft abstürzt. Und wer sich allein auf die Kraft des flatternden ersten Flügels verlässt, wird nie wirklich aufsteigen. Es braucht beide Flügel – und die müssen in Balance sein.
Diese Balance ist es, die wir oft missverstehen. Wir glauben, wir müssten unablässig korrigieren, eingreifen, lenken – als hinge alles allein an unserer eigenen Kraft. Wir versuchen, nicht nur unseren Flügel zu bewegen, sondern auch den des Lebens zu kontrollieren. Wir wollen nicht nur Verantwortung übernehmen, sondern auch den Fluss der Dinge steuern.
Die Illusion der Kontrolle
Viele von uns wachsen mit der Vorstellung auf, dass wir das Leben gestalten, dass wir für die richtigen Weichenstellungen verantwortlich sind. Eltern tun es für ihre Kinder, Führungskräfte für ihre Teams, Partner füreinander – und wir alle für uns selbst.
Dass wir uns nicht missverstehen: Natürlich ist Verantwortung wichtig. Ohne sie gäbe es kein Miteinander, keine Fürsorge, keine Entwicklung. Verantwortung bedeutet, sich um Dinge zu kümmern, die uns und andere betreffen. Sie ist der Ausdruck von Achtsamkeit und Mitgefühl.
Aber leider verwechseln wir oft Verantwortung mit Kontrolle. Wir haben gelernt, dass unser Handeln den Unterschied macht – und das stimmt in vielen Bereichen auch. Doch daraus entsteht leicht der Trugschluss, dass wir ständig aktiv eingreifen müssen, um Dinge «richtig» zu machen.
Wir glauben, dass, wenn wir nicht eingreifen, wenn wir nicht «helfen», etwas verloren geht. Dass ohne unser Zutun Chaos entsteht, Fehler sich häufen, falsche Entscheidungen getroffen werden. Wir fürchten, dass etwas unwiderruflich schiefgeht – sei es im Leben unserer Kinder, unserer Partner, unserer Kollegen oder in unserem eigenen.
Aber schauen wir doch mal genau hin: Wieviel von dieser Angst basiert wirklich auf der Realität – und wie viel davon bloss eine Projektion unserer eigenen Unsicherheit? Wie oft ist unser Eingreifen tatsächlich notwendig – und wie oft entspringt es nur dem tief verwurzelten Glauben, dass ohne uns nichts funktioniert?
Denn nochmals: Natürlich gibt es Situationen, in denen Handeln gefragt ist. Wenn ein Kind in Gefahr ist, wenn ein Projekt in eine klare Sackgasse läuft, wenn jemand in einer akuten Krise steckt, dann ist es wichtig, da zu sein und zu helfen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen einem unterstützenden Eingriff und der ständigen Überzeugung, dass unsere Intervention immer nötig sei.
Oft ist genau dieses ständige Einmischen die eigentliche Ursache für Unsicherheit – bei anderen und bei uns selbst. Wer versucht, den Fisch vor dem Ertrinken zu retten, beraubt ihn der Gelegenheit, sein Fisch-Sein zu entdecken. Ein Kind, das nie die Chance bekommt, eigene Fehler zu machen, wird unsicher und abhängig. Ein Team, das immer auf Anweisungen wartet, verliert seine Eigeninitiative. Und wenn wir uns selbst ständig korrigieren, weil wir glauben, nicht «gut genug» zu sein, schneiden wir uns von unserer eigenen Intuition ab.
Schauen wir in die Natur: Kein Baum wird gedrängt, schneller zu wachsen. Kein Fluss wird angetrieben, schneller zu fliessen. Das Leben findet seinen Weg – immer.
Nicht alles hängt von unserem Eingreifen ab. Vieles entfaltet sich von selbst – oft besser, als wir es hätten planen können. Und genau deshalb bedeutet Verantwortung manchmal, bewusst nicht einzugreifen.
Vertrauen statt Eingreifen
Ein Freund steckt in einer Krise. Dein erster Impuls ist, ihm Ratschläge zu geben, Lösungen aufzuzeigen, vielleicht sogar die Dinge für ihn zu regeln. Du willst helfen, denn du siehst seinen Schmerz, seine Verzweiflung – und du möchtest ihn davon befreien.
Doch was passiert, wenn du stattdessen einfach präsent bleibst? Wenn du ihm nicht sofort einen Ausweg präsentierst, sondern ihm zutraust, seine eigenen Antworten zu finden? Was passiert, wenn du nicht versuchst, seine Situation zu «reparieren», sondern ihm den Raum gibst, selbst mit ihr zu wachsen?
Wir neigen dazu, das zu vergessen – vor allem, wenn wir glauben, dass Veränderung sofort geschehen muss. Aber oft ist es eben nicht unser Eingreifen, das einen Menschen rettet, sondern unser Vertrauen in seine Fähigkeit, seinen eigenen Weg zu finden. Ein Schmetterling, der sich aus dem Kokon windet, kämpft. Die Hülle scheint ihn zu erdrücken, der Prozess ist mühsam. Unser Impuls wäre, den Kokon aufzubrechen, ihm den Kampf zu ersparen. Doch wenn wir das tun, berauben wir ihn der Kraft, die er für das Leben braucht. Seine Flügel bleiben schwach, sein Körper zu schwer – und er wird nie fliegen können.
Wirkliche Hilfe besteht nicht darin, den anderen nach unseren Vorstellungen zu formen oder ihn aus jeder schwierigen Lage herauszuholen. Wahre Hilfe besteht darin, ihm die Freiheit zu lassen, seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Wahrheit, seine eigenen Fehler und Erkenntnisse zu erleben.
Dasselbe gilt für uns selbst. Wie oft kämpfen wir gegen das, was ist? Wie oft schwimmen wir gegen den Strom, weil wir glauben, dass wir das Leben kontrollieren müssen? Doch je mehr wir uns verkrampfen, desto erschöpfter werden wir.
Vielleicht ist es an der Zeit, weniger zu «machen» – und mehr zu vertrauen. Weniger einzugreifen – und mehr zu beobachten. Weniger zu korrigieren – und mehr anzunehmen. Denn oft ist es genau dieses Vertrauen, das den Menschen um uns herum – und uns selbst – erlaubt, wirklich zu wachsen.
Die Kraft des Nicht-Tuns
Es gibt eine Weisheit im Zen-Buddhismus: Wu Wei – das Nicht-Erzwingen. Wu Wei bedeutet nicht Passivität, sondern ein tiefes Vertrauen in den natürlichen Lauf der Dinge. Es bedeutet, mit dem Leben zu fliessen, anstatt gegen es anzukämpfen.
In der westlichen Welt sind wir es gewohnt, dass Fortschritt mit Anstrengung verbunden ist. Wir glauben, dass wir durch Planen, Eingreifen und Kontrollieren das Beste aus jeder Situation herausholen. Doch oft ist es genau dieses ständige Wollen, das uns vom Wesentlichen entfernt.
Wu Wei ist die Kunst, im richtigen Moment nichts zu tun. Es ist die Fähigkeit, zu erkennen, wann Aktion notwendig ist – und wann sie nur eine Illusion von Kontrolle schafft. Der Bambus biegt sich im Sturm, während der starre Ast bricht. Das Wasser fliesst um Hindernisse herum, ohne seinen Kurs zu verlieren.
Laozi beschreibt es so: «Wer sich dem Fluss des Lebens anvertraut, wird getragen. Wer gegen ihn kämpft, wird müde.»
Manchmal bedeutet Loslassen nicht, dass wir aufgeben – sondern dass wir den Dingen erlauben, sich auf ihre eigene Weise zu entfalten. Wu Wei lädt uns ein, nicht mehr ungeduldig an den Knospen des Lebens zu zerren, sondern zuzulassen, dass sie zur richtigen Zeit erblühen.
Vielleicht kennst du das Gefühl, wenn du eine Lösung mit aller Kraft suchst – und sie erst dann findest, wenn du aufhörst, sie zu erzwingen. Wenn du dich einem Problem nicht mehr krampfhaft entgegenstellst, sondern es aus einer anderen Perspektive betrachtest. Wenn du jemandem Raum gibst, anstatt ihn mit Ratschlägen zu überhäufen – und er genau dadurch die Antwort selbst findet.
Der Fisch muss nicht gerettet werden. Er ist bereits in seinem Element.
Und vielleicht bist auch du genau da, wo du sein sollst – unabhängig der gegenwärtigen Umstände.
Lass die Dinge sich entfalten. Sei aufmerksam, sei präsent – und vertraue darauf, dass das Leben dir zur richtigen Zeit die richtigen Antworten schenkt.
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