«Das Leben besteht zu drei Vierteln daraus, sich sehen zu lassen.»
– Woody Allen
Der Kleidungsstil vieler Beschäftigter wurde seit der Pandemie etwas gemütlicher – vor allem auch am Bildschirm: oben top, unten flop. Das Homeoffice hat die langjährige Debatte darüber, wie streng Bürokleidung denn noch sein muss, wieder auf das Neue entflammt. Und nun wollen immer mehr Angestellte im Büro T-Shirts und Sweatshirts tragen. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich.
Viele fühlen sich in T-Shirt und Sweatshirt einfach wohler. Abgesehen davon will man sich nicht aufgrund äusserer Merkmale schubladisiert wissen. Ganz nach dem Motto: Don’t judge a book by its cover. Denn wieviel Sorgfalt jemand letzten Endes in seine fachliche Kompetenz und die Selbstdarstellung steckt, hängt ja nicht unbedingt davon ab, ob man in Anzug und Krawatte auftritt – so zumindest denken viele.
Wie würde wohl l’avvocato darüber denken?
Was Mode und Stil betrifft, bin ich mit meinen italienischen Wurzeln ziemlich befangen. Von zuhause geprägt, hatte Kleidung schon in meiner frühen Jugend einen hohen Stellenwert. Kommt noch dazu, als Tifoso von Juventus Turin war ich unweigerlich auch von der Gestalt des übermächtigen Gianni Agnelli geprägt. Seines Zeichens Milliardär, Unternehmer, Fiat-Boss, Jetsetter, Superstar, volksnaher Publikumsliebling, Eigentümer von Juventus Turin und Mode-Ikone schlechthin. Der inoffizielle König Italiens, der so oft kopiert wurde und doch nie erreicht.
Niemand ausser ihm konnte sich solche Marotten erlauben, wie beispielsweise seine Armbanduhr über der Manschette seiner massgeschneiderten Hemden zu tragen. Jeder, der so etwas versucht, gibt sich der Lächerlichkeit Preis. Nicht jedoch Gianni Agnelli. Bei ihm wird eine solche Eigenheit zur höchsten Kunstform, die die Italiener gerne als «sprezzatura» bezeichnen. Eine gekonnte Nonchalance, die nur sehr wenigen Persönlichkeiten gegeben ist.
L‘avvocato, wie Agnellis Spitzname lautete, kannte vermutlich weder das Konzept des Homeoffice, noch war ihm das Zoom-Meeting ein Begriff. Doch würde er heute noch unter uns weilen, so bin ich mir ziemlich sicher, was er als Connoisseur des guten Geschmacks zu dieser zunehmend lockerwerdenden Wohlfühlgarderobe in Unternehmen zu sagen hätte:
«Non me ne frega niente.»
Es wäre ihm egal gewesen. Denn Agnellis Haltung zu Mode war sehr klar: Jedermann darf tragen, was er will, solange es von höchster Qualität ist.
Egal, welche Kleider Du trägst, es ist ein Statement.
Ein paar braune Wanderschuhe unter dem konservativen Massanzug, die Krawatte ganz schief gebunden oder sogar über den Pulli raushängen zu lassen, ja, so etwas konnte sich nur jemand leisten wie er. Gianni Agnelli war die Personifizierung des berühmten und ungeschriebenen Gesetzes, dass man die Regeln erst einmal beherrschen muss, um sie brechen zu können.
Was für Agnelli die Armbanduhr über dem Hemd war, ist für Mark Zuckerberg das graue Brunello Cucinelli T-Shirt, und für Steve Jobs der schwarze Rollkragenpulli und die New-Ballance Sneakers.
Wenn Silicon Valley Milliardäre sich gerne hip und cool geben, in dem sie den Dresscode brechen, dann lassen sie uns andere Sterbliche gerne wissen, dass sie dasselbe graue T-Shirt in zehnfacher Ausführung im Kleiderschrank haben. Das natürlich nur aus Gründen der Effizienz. Damit sie am Morgen keine Zeit damit vergeuden, sich Gedanken zu machen, was sie heute anziehen sollen. Auch Agnelli begründete seine Marotte damit, dass er keine Zeit dafür habe, beim Blick auf die Uhr jedes Mal erst den Ärmel des Hemdes zurückzuziehen.
Mit Verlaub, ich denke, das alles ist totaler Bullsh!t.
Klar, ein T-Shirt mag für viele weitaus bequemer sein als Anzug und Krawatte. Die New-Ballance-Sneaker mögen sich angenehmer anfühlen als ein schlecht passender Oxford-Schnürer. Aber mal davon abgesehen: Dass jemand wie Zuckerberg mit grauem T-Shirt bei der Aktionärsversammlung erscheint oder Steve Jobs sich mit Sneakers und der Levi’s 501 auf formellen Podien präsentierte, ist sicherlich nicht eine Frage der Effizienz und schon gar nicht des körperlichen Wohlbefindens, sondern vielmehr ein Status-Statement.
Wer bei formellen Anlässen sich nicht dem Dresscode zu beugen braucht, sagt damit vor allem eines: Die Regeln gelten für euch andere, nicht jedoch für mich. Es ist nichts anderes als eine öffentliche Zurschaustellung des vorherrschenden Machtgefälles. Eine Machtdemonstration, die unter dem Deckmantel gelassener «Hipness» und »Coolness» verschleiert wird.
Der Unterschied zwischen einem Agnelli, einem Zuckerberg oder Jobs ist aus dieser Perspektive vor allem eine Frage des Geschmacks und des Stils. Die Kleidungsstücke mögen sich bei den Protagonisten von Generation zu Generation ändern, doch die Regeln dieses Spiels bleiben stets dieselben: Die einen passen sich den Regeln an, die anderen machen sie. Das war schon immer so und das wird für sehr, sehr lange Zeit auch so bleiben.
Don’t judge a book by its cover?
Ein massgeschnittener Anzug und eine teure Uhr über der Manschette machen noch keine Stil-Ikone. So wie ein schwarzer Rollkragen-Pulli und weisse Sneaker kein Genie machen.
Don’t judge a book by its cover? Doch. Das tun wir. Immer und immer wieder. Und dass trotzdem wir es besser wissen. Daran lässt sich nichts ändern. Das ist unsere Natur.
Wenn da nämlich eine Person den Raum betritt, dabei etwas bedrohlich aussieht und auf uns zukommt, dann reagieren wir instinktiv darauf. Unsere Amygdala sendet im Gehirn, in Bruchteilen von Millisekunden, entsprechende Botenstoffe aus, die uns auf diesen Menschen reagieren lassen. Das ist zum einen sicherlich gut. Weil diese Reaktionsfähigkeit unter Umständen uns das Leben retten kann. Zum anderen aber nicht unbedingt in jedem Fall so gut. Denn selbst wenn eine solche potenzielle Bedrohung gar nie vorhanden ist, so ist dennoch der genau gleiche Mechanismus in unserem Gehirn aktiv, wenn wir eine neue Begegnung mit einem Fremden haben.
In Millisekunden wird nun mal unser erster Eindruck geprägt, und leider nicht immer auf hilfreiche Weise – ob wir wollen oder nicht.
Die Wissenschaft ist sich hier einig. Der Anzug macht noch immer grossen Eindruck auf uns. Auch dann, wenn eine Pfeife drin steckt. Das T-Shirt wird eher unterschätzt, auch dann, wenn es von einem Genie getragen wird.
Das Verrückte dabei ist: Schickt man Testpersonen in einen Kernspintomographen, um dabei zuzuschauen, was im Gehirn geschieht, wenn Bilder von unterschiedlich gekleideter Menschen während 129 Millisekunden aufblitzen, so reagieren diese Testpersonen auf die typischen Klischees. Die «teurer» gekleideten Personen auf den Bildern schneiden immer besser ab. Der Anzug kommt kompetenter rüber als das T-Shirt. Und jetzt kommts: Das ist sogar selbst dann der Fall, wenn die Testpersonen im Vorfeld eindringlich davor gewarnt werden, sich nicht durch die Kleidung täuschen zu lassen. Es passiert trotzdem – im Kernspintomographen genauso wie auf der Strasse des Lebens.
Aber damit nicht genug. Bei dieser geschilderten Testreihe* ist man sogar so weit gegangen, den Testpersonen Geld dafür zu zahlen, sich nicht von der Kleidung verleiten zu lassen, um eine möglichst akkurate Einschätzung vorzunehmen. Die Ergebnisse blieben unverändert: Gut gekleidete Leute wirken in der Wahrnehmung kompetenter.
Warum Du Deine Kleidung nicht dem Zufall überlassen solltest.
Keiner kann sich darüber stören, dass Angestellte gerne für sich selber entscheiden wollen, was sie bei der Arbeit tragen. Auch wenn das vielleicht nicht immer in Einklang mit dem Dresscode der Firma ist.
Aber dabei sollte man eines nicht vergessen: Wir sind permanent auf Sendung. Ob T-Shirt oder Anzug, wir senden ständig Signale aus und diese Signale beeinflussen unsere Aussenwahrnehmung, die für oder gegen uns sprechen – zurecht oder unrecht.
Unser Gehirn ist evolutionär darauf gepolt, Statussignale zu erkennen und zu deuten, weil wir uns als Individuen in der Gruppe und Gesellschaft, in Bezug zu anderen, ständig neu positionieren müssen. Dabei verwertet unser Gehirn einfach alles, was es registriert. Vor allem auch all jene Dinge, die uns nicht einmal bewusst sind. Statusverhalten gestaltet nun mal unsere Wirkung.
Auch jene Testpersonen, die man in diesen Kernspintomographen gesteckt hat, waren anfänglich der Überzeugung, dass sie selbst doch nicht auf so etwas Dämliches und Oberflächliches wie Klamotten reinfallen. Aber die Sache ist nun mal die, wir merken in der Regel gar nicht, dass so etwas wie eine «Vorentscheidung» in unserem Gehirn stattgefunden hat. Wenn wir uns solche Entscheidungen erklären, so verhalten wir uns dabei eher wie ein Pressesprecher, der lediglich ausführt und erklärt, was andere Instanzen bereits im Vorfeld beschlossen haben.
Die wissenschaftliche Bezeichnung dafür lautet «positive Teststrategie». Wenn es darum geht, herauszufinden, welche Möglichkeit in einer gegebenen Situation die richtige ist, suchen wir tendenziell eher nach Bestätigung einer Sache und nicht nach ihrer Widerlegung. Es ist für das menschliche Gehirn viel einfacher und auch leichter die Anwesenheit von etwas zu registrieren als deren Abwesenheit. Etwas praktischer formuliert: Haben wir von einer Person einen schlechten ersten Eindruck, so halten wir nach Signalen Ausschau, die uns diesen schlechten Eindruck bestätigen. Haben wir von jemandem einen guten ersten Eindruck, so filtern wir auch in diesem Fall all jene Information heraus, die diesen guten Eindruck erhärten.
Unser Gehirn versucht also gar nicht erst, diesen ersten Eindruck zu widerlegen, sondern wie gesagt, nur zu bestätigen. Zum einen, weil unsere Amygdala einfach viel zu schnell für unser Bewusstsein ist. Zum anderen, weil die oberste Prämisse für unser Gehirn lautet: Energie sparen. Und etwas zu widerlegen ist nun mal weitaus energiezehrender für das Gehirn als etwas zu bestätigen. Ergo diese mentale Abkürzung.
All das hat Konsequenzen.
Jeder, der in seinem Job auf die Zustimmung anderer Menschen angewiesen ist, sollte es also nicht dem Zufall überlassen, welche Kleidung bei der Arbeit getragen wird. Und ganz nebenbei bemerkt: Zustimmung brauchen alle, die irgend jemanden von irgendetwas überzeugen müssen, Kunden wie Vorgesetzte, Kollegen wie Untergebene. Wer Zustimmung braucht, muss Einfluss nehmen und kommunizieren können. Da schadet es nicht, wenn man dabei ein paar anständige Klamotten trägt.
Kleide Dich gemäss Deiner Rolle.
«Ich bin, wie ich bin», sagen dann gerne manche Leute. Meistens höre ich diese Floskel von Menschen, die sich nicht sehr viele Gedanken über ihre eigene Rolle in der Gesellschaft oder im Beruf machen. Womit sie gerade dadurch ein grosses Stück Wirkungskompetenz freiwillig aus den eigenen Händen geben.
Natürlich soll jeder sein, wie er ist. Unbedingt.
Aber dieses so-sein-wie-man-ist, fällt immer auch auf unterschiedliche Identitäten und Rollen. Derselbe Mensch kann beispielsweise gleichzeitig Mutter, Ehepartnerin, Tochter, Vorgesetzte und Pilotin einer Boeing 747 sein. Fünf unterschiedliche Rollen mit ganz unterschiedlichen Erwartungen, Aufgaben, Pflichten, Verantwortungen und Privilegien. Sich der jeweiligen Rolle entsprechend zu kleiden, kann sehr hilfreich sein. Sowohl zum Selbstschutz, wie auch als Unterstützung und Förderung dieser Rolle. Denn die Kleidung ist immer ein Verstärker der Persönlichkeit und der damit einhergehenden Kompetenzen, die die jeweilige Rolle verlangt und mit sich bringt.
Nächste Woche steige ich wieder in ein Flugzeug. Und wenn ich auf der Gangway einen Blick ins Cockpit hasche, so wird mein Gehirn sämtliche Signale verwerten, die mir ein gutes und bestärkendes Gefühl geben sollen, in diesen Flieger zu steigen. Doch wenn ich in diesem Cockpit eine Pilotin in Omas selbstgestrickten Pulli und Birkenstöcke am Steuerknüppel sitzen sehe, so werde ich zögern, dieses Flugzeug zu besteigen. Da mag diese Person noch so authentisch und von mir aus die beste Pilotin dieser Welt sein. All das ist meinem Gehirn in dieser Situation ziemlich egal, weil ich diesen Menschen nicht kenne. Mein Gehirn führt eine positive Teststrategie durch und wird diesen ersten schlechten Eindruck erhärten. Einzig ein passender Kleidungsstil dieser Person in dieser Rolle als Pilotin, könnte mir in solch einem Moment ein gewisses Gefühl der Entspannung bieten, um in diesen Flieger zu steigen. Weil die Kleidung mir nun mal zumindest so etwas wie die Illusion einer vorhandener Kompetenz vorgaukelt.
Einen Menschen und seine Fähigkeiten richtig kennenzulernen, braucht Zeit – manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger. Aber in jedem Falle können wir es halten, wie der deutsche Dichter Karl Simrock einmal gesagt hat: «Man empfängt Menschen nach dem Kleide und entlässt sie nach dem Verstand.»
Letzteres jedoch funktioniert beim Flieger nicht unbedingt.
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*Quelle: D. Oh, E. Shafir, A. Todorov, Nature Human Behaviour 4, 287-293 (2020) / «Economic status cues from clothes affect perceived competence from faces»
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