Empathie wird oft als Grundlage für moralisches Handeln und damit selbst als grundsätzlich gut angesehen. Sie ist ein unschätzbares Instrument, um die Gefühle und Erfahrungen anderer Menschen zu verstehen und sich mit ihnen zu verbinden. Doch bei genauerem Hinschauen kann die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, viele unbeabsichtigte Folgen mit sich bringen. Ja, schlimmer noch: Es ist gerade die Fähigkeit zur Empathie, die als Motivation hinter manch gezielten Demütigungen und Grausamkeiten steckt.
The Good: Die guten Seiten der Empathie
Im Kern ist Empathie die Fähigkeit, die Gefühle einer anderen Person zu verstehen und zu teilen. In erster Linie geht es darum, die Welt mit ihren Augen zu sehen, ihre Perspektive und Gefühle zu verstehen und auf eine Weise zu reagieren, die unterstützend und mitfühlend ist.
Einfühlungsvermögen hilft uns, Vertrauen zu unseren Kollegen oder Kunden aufzubauen, Beziehungen zu knüpfen und Freundlichkeit in unserem täglichen Leben zu praktizieren. Durch Empathie ist es uns möglich, die Dinge aus der Perspektive anderer Menschen zu sehen und kann uns auch dabei helfen, Entscheidungen nicht nur aus Eigeninteresse zu treffen, sondern die Bedürfnisse anderer mitzuberücksichtigen. Am Arbeitsplatz bringt sie so einige Vorteile mit sich:
Verbesserte Kommunikation Einfühlungsvermögen ermöglicht es dem Einzelnen, die Perspektive und die Gefühle anderer besser zu verstehen und wiederzugeben, was zu einer effektiveren Kommunikation führen kann. Und wenn man einen Schritt weiter geht, muss man auch verstehen, warum die Person so empfindet, und ihre Erfahrungen ohne Wertung anerkennen.
Stärkere Beziehungen Das trägt dazu bei, Vertrauen und eine Verbindung zwischen Menschen zu schaffen, was wiederum zu ehrlicheren Gesprächen führen kann und die Beziehungen zu Kollegen und Kunden stärkt, weil sie Aufmerksamkeit schenkt.
Bessere Zusammenarbeit Wenn Menschen sich ernst genommen, verstanden und unterstützt fühlen, arbeiten sie mit grösserer Wahrscheinlichkeit effektiver zusammen und zeigen sich gegenseitig hilfsbereiter.
Bessere Problemlösung Durch eine bessere Zusammenarbeit ermöglicht die Empathie ausserdem effektivere Problemlösungen zwischen Menschen. Weil sie hilft, die Standpunkte der anderen zu verstehen und gemeinsam an umfassenderen und innovativen Lösungen zu arbeiten.
Diese und viele andere hilfreichen Vorteile der Empathie sind unumstritten und machen sie zu einem mächtigen Faktor. Allerdings sollten wir sie in achtsamer Weise einsetzen. Empathie ist nämlich viel komplexer, als es im ersten Moment den Anschein macht.
The Bad: Die schlechten Seiten der Empathie
Trotz aller positiven und unterstützenden Absichten, mit der wir unsere Empathie zum Einsatz bringen, sollten wir nicht naiv sein. Es ist eine Tatsache, dass es bestimmte Umstände gibt, die sie unwirksam, geschmacklos und sogar schädlich machen können.
Viele Dinge in unserem Leben, die wir vermeintlich unter dem glorifizierten Banner der Empathie tun, können unbeabsichtigte und schwerwiegende Folgen haben, die wir oft unterschätzen oder nicht einmal auf dem Radar haben. Daher gibt es bei der Ausübung von Empathie so einige Aspekte, die angesprochen werden müssen:
Emotionale Erschöpfung Es ist grossartig, Menschen zu verstehen und sich in sie hineinzuversetzen, aber es kann auch zu emotionaler Erschöpfung führen. Menschen, die einfühlsam sind, neigen dazu, die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen zu stellen, oft auf ihre eigenen Kosten. Das kann dazu führen, dass man sich überwältigt und emotional ausgelaugt fühlt, was sich auf die Gesundheit auswirken kann, vor allem, wenn Einfühlungsvermögen ein ständiger Bestandteil der Arbeit ist. Es ist wichtig, Pausen einzulegen und Selbstfürsorge zu betreiben, um ein Burnout zu vermeiden.
Burnout Zum Burnout kann es unweigerlich kommen, wenn Fach- und Führungskräfte sich emotional zu sehr und zu oft in die Probleme und Kämpfe ihrer Mitarbeiter und Kollegen hineinversetzen und sich darin verstricken. Diese emotionale Beteiligung wird mit der Zeit unweigerlich ihren Tribut fordern.
Mögliche Voreingenommenheit Empathie, die nicht mit Objektivität einhergeht, kann zu voreingenommenen Entscheidungen führen. Wir neigen dazu, hilfsbereit und fair sein zu wollen, aber in Wirklichkeit können Entscheidungen, die nur auf unseren Gefühlen und nicht auf Logik basieren, zu schlechten Ergebnissen führen. Es ist wichtig, daran zu denken, dass Empathie zwar bei Entscheidungen berücksichtigt werden sollte, aber nur ein Faktor von vielen ist.
Missverständnisse Einfühlungsvermögen kann manchmal als Zustimmung oder Unterstützung fehlinterpretiert werden, was zu unnötigen Missverständnissen führen kann. Wenn zum Beispiel jemand sein Mitgefühl für eine bestimmte Situation zum Ausdruck bringt, könnte dies als «grünes Licht» für die Durchführung der Massnahme angesehen werden. Dies kann zu Verwirrung und Konflikten führen, da die Person, die ihre Empathie zum Ausdruck bringt, nicht unbedingt mit dem Aktionsplan einverstanden ist.
Risiko möglicher Belästigungsklagen Wenn Einfühlungsvermögen in unerwünschte Aufmerksamkeit oder allzu persönliche Gespräche ausartet, könnte dies zu folgenden Konsequenzen führen: Der Arbeitnehmer könnte sich belästigt oder ausgegrenzt fühlen, was zu einer Klage gegen das Unternehmen führen könnte. Oder wenn sich ein Mitarbeiter durch Deine Annäherungsversuche unwohl fühlt und eine Beschwerde erhebt, könnte das Unternehmen für alle aus dem Vorfall resultierenden Schäden haftbar sein. Und je nach der Schwere des Vorfalls muss das Unternehmen unter Umständen eingreifen und disziplinarische Massnahmen gegen den betreffenden Mitarbeiter ergreifen.
Anspruchsdenken Ein empathischer Vorgesetzter hat zwar viele Vorteile, aber es gibt auch mögliche Fallstricke, wenn er zu einfühlsam ist. Wenn eine Führungskraft beispielsweise zu verständnisvoll oder nachsichtig mit ihren Mitarbeitern umgeht, kann dies zu einem Motivationsverlust bei den Mitarbeitern oder sogar zu Anspruchsdenken bei einigen Personen führen, die die Freundlichkeit der Führungskraft ausnutzen. Wenn eine Führungskraft ihren Teammitgliedern gegenüber kein angemessenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zeigt, kann das ausserdem zur Folge haben, dass die Grenzen zwischen persönlichen und beruflichen Beziehungen verschwimmen, was für zusätzliche Problemen am Arbeitsplatz sorgen kann.
Abhängigkeiten Ein weiteres, oft unterschätztes Problem der Empathie ist, dass sie, selbst wenn sie gut gemeint ist, oft unbeabsichtigte Folgen haben kann. Wenn man beispielsweise versucht, Mitgefühl für Menschen zu zeigen, die unter Armut oder Krankheit leiden, spendet man vielleicht Geld oder Ressourcen, ohne die möglichen Auswirkungen dieser Spenden zu bedenken. Ebenso kann emotionale Unterstützung kurzfristig Trost spenden, aber auf Dauer zu Abhängigkeit führen, wenn sie nicht richtig gehandhabt wird. Diese unbeabsichtigten Folgen sollten bei einfühlsamem Verhalten immer berücksichtigt werden.
Diese Liste ist nicht abschliessend. Aber sie zeigt, wie entscheidend es ist, sich stets bewusst zu sein, dass Empathie nicht nur positive, sondern auch negative Auswirkungen haben kann – sowohl für andere, wie auch für sich selbst. Aber nicht nur das, sie kann auch noch tiefere Dimensionen erreichen.
The Ugly: Die hässlichen Seiten der Empathie
Einer der beunruhigendsten Aspekte der Empathie ist ihre Fähigkeit, gezielte Erniedrigungen und Grausamkeiten zu ermöglichen. Wenn jemand die Fähigkeit hat, sich in andere hineinzuversetzen, kann er die Schwächen oder Verletzlichkeit anderer leichter erkennen und dieses Wissen dann gegen sie einsetzen. Das ist der Grund, warum so viele Tyrannen, Gewalttäter und Verbrecher bei ihren Versuchen, Schaden anzurichten, erfolgreich sind: Sie verstehen, wie sich ihre Opfer fühlen, und können dieses Verständnis für strategische Zwecke zu ihrem Vorteil nutzen.
Der Autor Fritz Breithaupt erklärt in seinem faszinierenden und lesenswerten Buch «Die dunklen Seiten der Empathie», dass Empathie in einer Reihe von hochproblematischen menschlichen Verhaltensformen eine zentrale Rolle spielt. Dazu gehören feindliche Verhärtungen, Terrorismus, verschiedene Formen der Ausbeutung, Sadismus und Schikanierungen, aber auch falsches Mitleid und fortdauernde Unterdrückung gehören zum Spektrum des durch Empathie ermöglichten Verhaltens. Er zeigt anhand vieler Beispiele, wie Empathie geradezu als Motivation zur Tat verstanden werden muss. Die Schlussfolgerung ist, dass diese menschlichen Untaten nicht trotz, sondern gerade aus und mit Empathie geschehen. Diese hässliche Erkenntnis steht im krassen Widerspruch zu unserem Alltagsverständnis von Empathie.
Empathie – gut, schlecht oder gar hässlich?
Im Kern wird Empathie in unserer Gesellschaft immer noch als eine gute Eigenschaft angesehen. Weil Einfühlungsvermögen nun mal ein unglaublich nützliches Instrument ist, um auf einer emotionalen Ebene eine bessere Verbindung zu unseren Mitmenschen herzustellen. Aber die Friede-Freude-Eierkuchen-Mentalität, mit der so manche Leute mit dem Thema der Empathie Hausieren gehen, darf ab und zu mal ruhig hinterfragt werden. Wir sollten uns von einer allzu einfältigen und naiven Vorstellung der Empathie befreien.
Die Frage, ob Empathie denn nun gut, schlecht oder gar hässlich ist, kann nicht mit einer einfachen Ja-Nein-Antwort gelöst werden. Wie bereits zuvor erwähnt, ist Empathie vor allem ein nützliches Instrument, das je nach Absicht, Bedürfnis und Anwendung bestimmte Wirkung erzielt. Die Bedrohungen, die jedoch von ihr ausgehen, sind eine Tatsache, die nicht von der Hand zu weisen sind. Diese Gefahren beschreibt Fritz Breithaupt ausführlich, in seinem bereits erwähnten Buch, in folgenden fünf Tendenzen:
Wie Empathie zum Selbstverlust führen kann und weshalb die Empathie in der heutigen Zeit womöglich am abnehmen ist.
Wie Menschen mit Empathie zum Schwarz-Weiss, bzw. Freund-Feind-Denken tendieren.
Wie Empathie regelmässig mit Identifikation verwechselt wird und uns in Retter- und Helferrollen verstricken lässt.
Wie Menschen mit Empathie den Schmerz anderer geniessen können.
Wie Menschen mit Empathie ihr eigenes Leben mit unterschiedlichen Formen des Vampirismus zu erweitern versuchen.
Und auch diese Liste ist nicht abschliessend. Es gibt noch andere Tendenzen.
Also nochmals: Ist Empathie gut, schlecht oder gar hässlich? Allein schon diese Frage impliziert eine gewisse Moral. Und gerade das ist eine weitere Tendenz, der die meisten von uns erliegen. Wir verwechseln zuweilen Empathie mit Moral. Das eine muss das andere nicht ausschliessen, aber sie sind nicht dasselbe. Anstatt der Empathie ein moralisches Etikett anzuheften, erscheint es hilfreicher zu sein, Empathie als eine Bereicherung und Erweiterung der eigenen Wahrnehmung zu verstehen. Eine Wahrnehmung, die wir kontinuierlich pflegen und weiterbilden können, und wenn auch nur, um die dunkleren Seiten der Empathie ein wenig zu erleuchten. Ich für meinen Teil werde weiterhin darum bemüht sein, die positiven Seiten der Empathie so konstruktiv wie möglich für mich und mein Umfeld zu nutzen. Aber ich mache mir nichts vor. Denn soviel habe ich verstanden: Mehr Empathie macht aus mir keinen besseren Menschen.
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