top of page
Salvatore Princi, Kommunikationstraining

10 unbequeme Wahrheiten über die Wissenschaft

10 unbequeme Wahrheiten über die Wissenschaft


Wir leben im Vertrauen auf die Wissenschaft. Sie soll erklären, was wir nicht verstehen. Sie soll beweisen, was wahr ist. Sie soll uns Technologien schenken, die unser Leben leichter machen. Wir erwarten von ihr Sicherheit, Fortschritt und Objektivität.


Genau darin liegt auch eine Gefahr. Denn Wissenschaft ist keine reine Wahrheit. Sie ist eine Praxis, die von Menschen betrieben wird. Mit ihren Interessen, Machtstrukturen und Grenzen. Sie erleuchtet, aber sie blendet auch. Sie klärt, aber sie vereinfacht. Sie entdeckt, aber sie übersieht.


Dies ist keine Absage an Forschung. Es ist eine Erinnerung daran, dass jede Erkenntnis ihren Preis hat. Hier sind deshalb 10 Wahrheiten, die zeigen, warum die Wissenschaft von heute nicht das letzte Wort sein kann. Und: warum wir lernen müssen, auch ihre Schatten zu sehen.



1) Wissenschaft verwechselt Messbarkeit mit Wahrheit.


Wissenschaft liebt Zahlen. Sie beruhigen, weil sie Klarheit versprechen. Was sich messen lässt, gilt als real. Was nicht messbar ist, wird zur Nebensache erklärt. Oder gleich zur Illusion.


Doch das Leben lässt sich nicht vollständig in Formeln pressen. Liebe, Angst, Hoffnung und Sinn – all das, was Mensch-Sein ausmacht, entzieht sich den Skalen und Diagrammen. Wir können Hormone zählen, Gehirnströme abbilden und statistische Korrelationen berechnen. Aber das Erleben selbst, das innere Beben einer Erfahrung, entgleitet der Messung.


Die Wissenschaft aber hat die Neigung, ihre Instrumente mit der Wirklichkeit selbst zu verwechseln. So wie ein Fischer, der nur das für existierend hält, was in seinem Netz hängen bleibt und vergisst, dass das Meer grösser ist als sein Fang.


Die unbequeme Wahrheit lautet: Nicht alles, was zählt, lässt sich zählen. Und nicht alles, was sich zählen lässt, zählt wirklich.


Und das hat eine weitere unangenehme Konsequenz: Denn wenn Wahrheit mit Messbarkeit verwechselt wird, was passiert dann mit dem, was sich nicht in Zahlen fassen lässt?



2) Wissenschaft verwechselt ihre Modelle mit der Wirklichkeit.


Wissenschaft arbeitet mit Modellen. Sie sind notwendig, weil die Welt zu komplex ist, um sie direkt zu begreifen. Ein Modell reduziert, vereinfacht und macht handhabbar. Es ist eine Karte, kein Gelände.


Doch allzu oft werden diese Karten selbst für die Landschaft gehalten. Ein physikalisches Modell beschreibt Kräfte, und plötzlich scheint es, als sei die Welt nichts anderes als Formel. Ein biologisches Modell erklärt Gene, und bald wirkt es, als sei der Mensch bloss ein Programm. Ein ökonomisches Modell simuliert Märkte, und schon gelten Menschen als rationale Automaten.


Das Problem liegt nicht im Modell, sondern in der Verwechslung. Denn jede Vereinfachung blendet aus. Jede Karte lässt etwas weg. Doch wenn die Vereinfachung zur Wahrheit erklärt wird, verliert die Wirklichkeit ihre Tiefe.


Die Wahrheit ist: Wissenschaft erklärt viel, aber niemals alles. Ihre Modelle sind nützlich, aber sie sind nicht das Ganze.


Was mich zur nächste Frage führt: Wenn Modelle unsere Wahrnehmung bestimmen, wer bestimmt dann, welche Modelle wir überhaupt sehen dürfen?



3) Wissenschaft lebt von Machtstrukturen.


Wissenschaft inszeniert sich gern als freier Raum der Erkenntnis. Doch in Wirklichkeit hängt sie an Geld, Karrieren und Institutionen. Forschung kostet Milliarden, und wer zahlt, bestimmt, welche Fragen gestellt werden. Und welche lieber nicht!


Ein Pharmaunternehmen investiert in Medikamente, nicht in Prävention. Ein Tech-Konzern fördert künstliche Intelligenz, nicht die Philosophie des Bewusstseins. Universitäten jagen Drittmittel und Rankings, nicht selten auf Kosten der Themenvielfalt. Wer sich zu weit ausserhalb bewegt, riskiert, keine Förderung zu erhalten und verschwindet vom Spielfeld.


Wahrheit entsteht also nicht im luftleeren Raum, sondern in Netzwerken aus Geld, Macht und Interessen. Wissenschaft ist immer auch Politik, eingebettet in Systeme, die bestimmen, was relevant ist und was als «unwissenschaftlich» gilt.


Wissenschaft ist nie neutral. Sie wird geformt von den Händen, die sie füttern.


Das ist unangenehm und schwer zu akzeptieren: Denn wenn Interessen Forschung lenken, was bleibt dann vom Anspruch, der Wirklichkeit wirklich verpflichtet zu sein?



4) Wissenschaft verliert im Detail den Blick fürs Ganze.


Fortschritt lebt von Spezialisierung. Je tiefer wir graben, desto genauer werden unsere Ergebnisse. Die Medizin kennt heute Gene, Proteine und neuronale Schaltkreise, die Physik rechnet mit Teilchen und Feldern, die Informatik mit Algorithmen und Datenströmen. Jeder Bereich wird präziser und zugleich enger.


Allerdings: während das Detail immer schärfer wird, verschwimmt der Zusammenhang. Wer die kleinsten Einheiten versteht, versteht nicht automatisch das Ganze. Ein Herz ist mehr als eine Pumpe, ein Mensch mehr als die Summe seiner Moleküle, eine Gesellschaft mehr als ein Haufen Individuen.


Die Spezialisierung schafft Inseln des Wissens – beeindruckend in sich, aber oft isoliert voneinander. Der Ozean dazwischen, das Verbindende, so wie die dunkle Materie im Universum, bleibt unkartiert. Und genau dort lauern die Fragen, die unser Leben prägen: Wie hängt Körper mit Geist zusammen? Wie wirken Technik und Kultur aufeinander? Wie balancieren wir Fortschritt mit Verantwortung?


Das ist problematisch, denn wo der Blick fürs Ganze schwindet, zählt oft nur noch, wer die meisten Veröffentlichungen vorweisen kann. Nicht, wer die entscheidenden Fragen stellt.



5) Wissenschaft verwechselt Publikation mit Erkenntnis


In der Wissenschaft gilt: Was nicht veröffentlicht ist, existiert nicht. Forschung wird nicht nur betrieben, um zu verstehen. Sie muss auch in Journals erscheinen, zitiert, messbar und sichtbar sein. Erkenntnis wird zu einer Währung, und ihr Wert bemisst sich nicht an Tiefe, sondern an Reichweite.


Das führt zu einem paradoxen Effekt: Je mehr publiziert wird, desto weniger Zeit bleibt, wirklich zu denken. Studien werden fragmentiert, Ergebnisse gestückelt, um die Anzahl der Veröffentlichungen zu maximieren. Die Karriere hängt von Zitationsindizes ab, nicht von der Substanz.


So entsteht eine Inflation des Wissens: Berge von Daten, Papers, Konferenzen und doch wenig Orientierung. Was als Fortschritt erscheint, ist oft nur Geschwindigkeit. Der Lärm der Publikationen übertönt die leisen, aber entscheidenden Fragen.


Wissenschaft verwechselt die Quantität der Ergebnisse mit der Qualität der Erkenntnis.


Und das erinnert fast ein wenig an Kirche und Religion. Denn wo Publikation wichtiger ist als Wahrheit, verwandeln sich Überzeugungen in neue Dogmen – und die Wissenschaft läuft Gefahr, selbst unkritisch zu werden.



6) Wissenschaft ist nicht frei von Dogmen.


Sie versteht sich als kritisch, als permanent überprüfend, als ein System, das Irrtum korrigiert. Und doch: auch die Wissenschaft hat ihre Tabus. Bestimmte Fragen gelten als unseriös, bestimmte Methoden als «unwissenschaftlich», bestimmte Perspektiven als verdächtig.


Wer wagt, diese Grenzen zu überschreiten, riskiert Ausschluss. Die Kirche nannte diesen Ausschluss Exkommunikation, die Wissenschaft nennt es schlicht «unseriös». Nicht, weil die Idee notwendigerweise falsch wäre, sondern weil sie nicht ins bestehende Paradigma passt. Ganze Forschungsrichtungen wurden so jahrzehntelang ins Abseits gedrängt: alternative Medizinformen, Bewusstseinsforschung oder spekulative Kosmologien. Erst wenn sich das Paradigma verschiebt, tauchen die Aussenseiter wieder auf. Nun allerdings als verspätet Anerkannte, aber nicht mehr als Pioniere.


Dogmen entstehen nicht, weil jemand sie bewusst setzt, sondern weil eine Gemeinschaft stillschweigend entscheidet, was denkbar ist und was nicht. Und gerade dort, wo Wissenschaft blind wird für ihre eigenen Grenzen, verwandelt sie sich in das, was sie eigentlich bekämpfen wollte: in eine Glaubensgemeinschaft.


Es ist leider eine der unangenehmsten Wahrheiten, die man nicht wahrhaben will: Wissenschaft ist nicht frei von Dogmen. Sie trägt sie nur in anderem Gewand.


Und auch das ist problematisch. Denn wenn Wissenschaft Weltbilder prägt, ohne ihre eigenen Grenzen zu reflektieren, beeinflusst sie nicht nur Erkenntnis, sondern auch unser Selbstverständnis als Menschen.



7) Wissenschaft unterschätzt ihre kulturelle Macht.


Wissenschaft stellt sich gern als neutral dar: nüchtern, faktenbasiert und frei von Ideologien. Aber diese Selbstwahrnehmung verdeckt ihre eigentliche Wirkung. Denn jede wissenschaftliche Theorie prägt auch das Bild, das wir uns von uns selbst und der Welt machen.


Wenn der Mensch als Maschine beschrieben wird, beginnen wir, uns wie Maschinen zu betrachten. Wenn die Biologie uns auf Gene reduziert, sehen wir Identität nur noch als Code. Wenn die Physik vom Universum als Simulation spricht, erleben wir Wirklichkeit zunehmend als etwas Virtuelles. Jedes Modell wird so auch zu einem kulturellen Narrativ.


Die Wissenschaft selbst reflektiert diese Wirkung selten. Sie glaubt, lediglich zu beschreiben. Dabei formt sie mit jedem Wort, jeder Metapher, jedem Bild die Art, wie wir denken, fühlen und handeln. Ihr Einfluss reicht tiefer als Politik oder Religion, weil er leise und unscheinbar wirkt.


Es kann nicht oft genug betont werden: Wissenschaft unterschätzt ihre kulturelle Macht. Und gerade darin entfaltet sie sie umso stärker.


Stichwort Kultur. Wie jede Kultur kennt auch die Wissenschaft Moden: Begriffe, die gefeiert werden, bis sie vom nächsten Hype verdrängt werden.



8) Wissenschaft ist anfällig für Modebegriffe


Wissenschaft lebt vom Neuen. Doch das Neue folgt nicht immer dem inneren Drang nach Wahrheit, sondern oft dem äusseren Sog nach Aufmerksamkeit. Kaum ein Forschungsfeld bleibt verschont von Trends: heute «Neuro», morgen «Quanten», übermorgen «KI». Begriffe werden zu Schlagwörtern, lange bevor sie wirklich verstanden sind.


Diese Moden bündeln Fördergelder, steuern Karrieren und erzeugen eine Sprache, die mehr verspricht, als sie hält. «Neuro» erklärt plötzlich alles: von Marketing bis Pädagogik. «Quanten» dient als magisches Etikett für Technologien, die noch in den Kinderschuhen stecken. «KI» wird gefeiert, als ob sie das Denken selbst schon ersetzt hätte.


Das Problem ist nicht die Forschung selbst, sondern der Kult um ihre Schlagwörter. Er erzeugt einen Hype, der Erwartungen übersteigert, Zweifel übertönt und Komplexität verschleiert. So verwandeln sich wissenschaftliche Begriffe in Werbeslogans und verlieren gerade dadurch ihre Schärfe.


Auch Wissenschaft ist nicht immun gegen Mode. Sie folgt Trends, die mehr mit Prestige und Kapital zu tun haben als mit Erkenntnis.


Und während sie im Sog der Trends schwimmt, gerät etwas Wesentliches immer wieder an den Rand: das Subjektive, das Erleben, das Innere.



9) Wissenschaft verdrängt das Subjektive.


Wissenschaft hat enorme Stärke darin, Mechanismen aufzudecken. Sie beschreibt, wie Moleküle interagieren, wie Signale im Gehirn feuern, wie Gesellschaften Muster bilden. Doch während sie die Strukturen präzise ausleuchtet, verliert sie das Innere aus dem Blick: das Erleben, das Bewusstsein und das Fühlen.


Das Subjektive ist schwer messbar, schwer zu fassen, schwer zu standardisieren. Und genau deshalb wird es an den Rand gedrängt. In Studien taucht es allenfalls als «Störgrösse» auf, als etwas, das die Daten verfälscht. Doch was als Störung behandelt wird, ist in Wahrheit der Kern unseres Menschseins.


So entsteht ein merkwürdiges Paradox: Je mehr die Wissenschaft über den Menschen herausfindet, desto weniger scheint sie darüber zu sagen, wie es ist, Mensch zu sein. Sie erklärt Prozesse, aber nicht das Erleben, das ihnen Sinn gibt.


Es ist ein wenig tragisch: Wissenschaft verdrängt das Subjektive, obwohl es das Fundament unserer Existenz ist.


Und damit öffnet sich die letzte Zumutung: Denn Daten allein genügen nicht. Wir brauchen auch Weisheit.



10) Wissenschaft ersetzt keine Weisheit.


Wissenschaft liefert uns Daten, Modelle und Theorien. Sie zeigt, wie Dinge funktionieren, und sie eröffnet technische Möglichkeiten, die vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar waren. Aber auf eine Frage bleibt sie stumm: Wie sollen wir mit diesem Wissen leben?


Sie sagt uns, wie wir Gene verändern können, aber nicht, ob wir es tun sollen. Sie erklärt, wie künstliche Intelligenz funktioniert, aber nicht, welche Verantwortung wir ihr überlassen dürfen. Sie zeigt, wie Ressourcen ausgebeutet werden können, aber nicht, ob es gerecht ist, dies zu tun.


Wissenschaft ist ein Werkzeug, kein Kompass. Doch allzu oft wird sie als letzter Massstab verstanden, als ob sie Orientierung ersetzen könnte. Dabei ist Wissen nicht gleich Weisheit. Zahlen schaffen keine Ethik. Modelle ersetzen keine Werte. Erkenntnis allein beantwortet keine Sinnfrage.


Daher: Wissenschaft ersetzt keine Weisheit. Und gerade deshalb brauchen wir die Fähigkeit, das Wissen, das wir haben, in Verantwortung zu verwandeln.



Wissenschaft ist eine der grössten Errungenschaften unserer Kultur. Sie hat unser Leben verlängert, unsere Welt erklärt und unseren Horizont erweitert. Aber sie ist nicht unfehlbar. Sie trägt ihre eigenen Schatten: den Glauben an Messbarkeit, die Verwechslung von Modellen mit Wirklichkeit, die Abhängigkeit von Geld und die Blindheit gegenüber dem Subjektiven.


Diese Schatten zu benennen heisst nicht, Wissenschaft zu verwerfen. Es heisst, sie ernst zu nehmen. Denn wer nur ihre Erfolge feiert, übersieht ihre Grenzen und wer ihre Grenzen übersieht, macht sie zur Religion.


Die Aufgabe unserer Zeit ist daher doppelt: das Wissen weiterzutreiben und zugleich die Weisheit nicht zu verlieren. Wissenschaft darf uns Erkenntnis geben, aber sie kann uns nicht abnehmen, was wir mit dieser Erkenntnis tun.


Vielleicht liegt gerade darin ihre grösste Zumutung: dass sie uns mehr zeigt, als wir begreifen können und uns zwingt, Verantwortung für das zu übernehmen, was wir wissen.


bottom of page