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Salvatore Princi, Kommunikationstraining

10 unbequeme Wahrheiten, warum «Spiritualität» ausgedient hat.

10 unbequeme Wahrheiten, warum «Spiritualität» ausgedient hat

Worte tragen Epochen. Manche leuchten, weil sie Neues benennen. Andere verblassen, weil sie überladen werden. «Spiritualität» gehört heute zur zweiten Sorte.


Lange war das Wort ein Zufluchtsort: für Suchende, die sich von Religion lösen wollten, für Menschen, die mehr Tiefe spüren wollten als das Alltägliche bot. Es klang frei, weit und offen. Doch inzwischen ist es ein abgegriffener Schlüssel, der kaum noch Türen öffnet.


Das liegt nicht daran, dass die Sehnsucht verschwunden wäre. Sondern weil das Wort selbst seine Schärfe verloren hat. Es erklärt nichts, es grenzt nichts ab, es verschleiert mehr, als es sichtbar macht.


Zeit also, genauer hinzusehen. Hier sind 10 Wahrheiten, warum «Spiritualität» ausgedient hat. Zehn Schritte, das alte Vokabular hinter uns zu lassen und den Raum für klarere Sprache zu öffnen.



1) Spiritualität ist kein Geheimnis mehr, sie ist ein Container.


Es gibt Wörter, die einmal ein Versprechen waren. «Spiritualität» gehörte zu ihnen. Ein Wort, das klang wie ein Schlüssel zu einer verborgenen Tür. Wer es benutzte, signalisierte: Hier beginnt ein Raum jenseits des Offensichtlichen. Ein Raum, der sich nicht mit Logik und Regeln erschliessen lässt.


Doch dieses Versprechen hat sich verbraucht. Heute bedeutet «Spiritualität» alles und nichts. Für die einen ist es Meditation, für die anderen Naturerfahrung, für wieder andere Atemübungen, Business-Retreats oder schlicht das Gefühl, «bei sich» zu sein. Der Begriff ist zu einem Container geworden, in den jeder legt, was gerade passt: vom Räucherstäbchen bis zur Achtsamkeits-App, vom Channeling über Engelbotschaften bis zum Heilstein im Trinkwasser, vom Tarot-Coaching bis zur Kristalllampe fürs Schlafzimmer. Alles passt hinein, alles darf sich «spirituell» nennen und gerade deshalb verliert das Wort seine Kontur.


Das Problem dabei ist nicht die Vielfalt, sondern die Beliebigkeit. Denn wo alles Platz hat, verliert das Wort jede Unterscheidungskraft. Es markiert keine Grenze mehr, keine klare Richtung und keine tiefere Dimension. Es ist wie eine leere Schale, die durch ihren Klang Tiefe suggeriert, ohne noch Inhalt zu transportieren.


Die Folge: Spiritualität erklärt nichts mehr. Sie ist ein Etikett, das man sich anheftet. Ob zur Selbstbeschreibung, zur Imagepflege oder zum Verkauf. Das Wort trägt nicht länger, weil es nicht mehr trennt zwischen ernsthafter Praxis und blossem Lifestyle.


Die Wahrheit ist: Spiritualität ist kein Geheimnis mehr. Sie ist ein Containerbegriff, der seine Kraft durch Überdehnung verloren hat.


Und aus dieser Leere entspringt eine Zumutung: Wenn ein Wort, das einst für Tiefe stand, zum Lifestyle-Accessoire verkommt, was sagt das über uns und unsere Suche aus?



2) Spiritualität war einmal Abgrenzung – heute ist sie Lifestyle.


Es gab eine Zeit, da war «Spiritualität» ein Signal. Wer sich so bezeichnete, stellte sich bewusst gegen das Gewohnte: gegen die starre Dogmatik der Kirchen, gegen die Kälte des Rationalismus, gegen den blossen Konsum. Spirituell zu sein hiess, nach einem anderen Weg zu suchen, nach Tiefe in einer Welt, die flach erschien.


Dieses Anderssein war ein Unterscheidungsmerkmal. Es verlieh jenen, die es beanspruchten, eine Aura von Sensibilität und Widerständigkeit. Spiritualität war das Terrain der Suchenden, der Abweichler, derer, die nicht in den Mainstream passten.


Doch das Besondere ist im Strom der Mediengesellschaft verflüssigt worden. Yoga ist im Fitnessstudio angekommen, Achtsamkeit im Business-Seminar, Meditation in der Smartphone-App. Das, was einst subversiv war, ist heute Teil des Marktangebots: buchbar, konsumierbar und massentauglich.


Damit verliert Spiritualität das, was sie einst ausmachte: ihren Ausnahmecharakter. Sie ist kein Widerspruch mehr zum Mainstream, sondern Teil des Mainstream geworden, mit Hochglanzfotos, Marketing-Slogans und Preislisten.


So sieht’s aus: Spiritualität war einmal Abgrenzung, heute ist sie Lifestyle. Sie markiert nicht mehr Tiefe gegen die Oberfläche, sondern ist selbst Oberfläche geworden: ein Design, das Tiefe simuliert.


Aber: Wenn das Besondere gewöhnlich geworden ist, was bleibt dann noch vom Anspruch, in der Spiritualität etwas zu finden, das uns wirklich verändert?



3) Was einst exklusiv war, untersucht heute die Wissenschaft.


Es gab eine Zeit, in der «Spiritualität» das einzige Feld war, in dem bestimmte Fragen gestellt wurden: Was ist Bewusstsein? Gibt es eine Wirklichkeit jenseits der sichtbaren Welt? Welche Kräfte prägen unsere innere Erfahrung? Wer darüber sprach, bewegte sich automatisch in einem Milieu des Mystischen, Abweichenden und Geheimnisvollen.


Doch diese Exklusivität ist verschwunden. Heute sind es die Neurowissenschaften, die untersuchen, wie Meditation die Struktur des Gehirns verändert. Die Psychologie erforscht Achtsamkeit als Ressource gegen Stress und Depression. Die Philosophie diskutiert Konzepte von Transzendenz, Identität und Selbstbewusstsein neu. Die Physik wagt sogar Modelle, die die Welt als Simulation oder als holographische Struktur deuten. Alles Hypothesen, die früher im Reich der Spiritualität beheimatet gewesen wären.


All das verschiebt die Gewichte. Was einst nur im Symbol, im Mythos oder in der esoterischen Sprache gedacht werden konnte, hat heute analytische, überprüfbare und dennoch faszinierende Ausdrucksformen gefunden. Das Geheimnis ist nicht verschwunden, aber es ist nicht länger das exklusive Terrain der Spiritualität.


Also können wir uns weiter fragen: Wenn andere Disziplinen jene Fragen ernsthafter, präziser und gleichzeitig offener bearbeiten, die Spiritualität lange für sich beanspruchte, brauchen wir dann das Wort überhaupt noch? Oder sind wir nicht längst auf einer anderen Ebene weiter?



4) Wo Wissen präziser wird, rutscht Spiritualität ins Geschäft.


Während die Wissenschaft jene Fragen aufgegriffen hat, die früher allein im Vokabular der Spiritualität gestellt wurden, hat das Wort selbst ein anderes Schicksal genommen. Was ihm an Tiefe entzogen wurde, ist nicht verschwunden: es wurde vermarktet.


Plötzlich steht «Spiritualität» auf Buchcovern, die schnelle Erleuchtung versprechen. Auf Seminarbroschüren, die Achtsamkeit als Karriere-Tool verkaufen. Auf Websites von Wellnesshotels, die Meditation als Zusatzpaket anbieten, neben Massage und Detox-Smoothie. Das Wort, das einmal von Ernst und Suche getragen war, dient heute als Etikett für Konsum.


Diese Kommerzialisierung ist nicht nur oberflächlich, sie verändert die Substanz. Denn eine Praxis, die ursprünglich radikal war – etwa Fasten, Schweigen oder Kontemplation – wird zum buchbaren Erlebnis. Sie verliert ihre Schärfe, wenn sie in Stundenplänen und Preiskategorien auftaucht. Spiritualität wird zum Produkt, das sich nach Angebot und Nachfrage richtet.


Das Ergebnis ist eine paradoxe Leere: Je präsenter Spiritualität im Markt auftaucht, desto weniger trägt sie den Anspruch, etwas auszusagen, das über den Markt hinausweist. Sie ist zu einer Chiffre für Erlebnis, Wohlbefinden und Lifestyle geworden.


Und so schliesst sich ein Kreis: Während die Wissenschaft tiefer forscht, bleibt Spiritualität an der Oberfläche. Während andere Disziplinen Komplexität erschliessen, wird sie zur Vereinfachung verkauft. Genau darin liegt eine weitere unbequeme Wahrheit: Spiritualität hat ihre Ernsthaftigkeit an die Logik des Marktes verloren.


Aber noch schwerer wiegt etwas anderes: Wenn ein Begriff so leicht verfügbar wird, verliert er auch seinen Status.



5) Spiritualität war einmal Status – heute ist sie abgenutzt.


Es gibt Begriffe, die nicht nur Inhalte tragen, sondern auch Zugehörigkeit markieren. «Spiritualität» war lange genau so ein Abzeichen. Wer sich spirituell nannte, stellte sich nicht nur anders dar, er stellte sich über das Gewöhnliche: sensibler, tiefer und bewusster. Spirituell zu sein bedeutete, einen besonderen Zugang zum Leben zu beanspruchen. Ein Status, der Respekt, manchmal sogar Ehrfurcht auslöste.


Doch dieses Unterscheidungsmerkmal ist abgenutzt. Gerade weil Spiritualität massentauglich geworden ist, wirkt sie nicht mehr besonders. Yoga im Fitnessstudio, Meditation als Pausenprogramm in Unternehmen, Achtsamkeit als Lifestyle-Trend – alles zugänglich, überall verfügbar. Ein Wort, das einmal Exklusivität versprach, ist heute austauschbar.


Hinzu kommt: In einer Welt, in der Begriffe wie «Bewusstsein», «Resilienz» oder «Selbsterforschung» differenzierter und konkreter gebraucht werden, wirkt «Spiritualität» zunehmend wie ein Sammelbegriff für all jene, die nicht genauer benennen können, was sie denn eigentlich tun oder suchen. Das Prestige, das einst mit ihm verbunden war, kippt ins Gegenteil: Wer sich als «spirituell» bezeichnet, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden.


Es ist offensichtlich: Spiritualität hat ihre Funktion als Statussymbol verloren. Sie ist kein Ausweis von Tiefe mehr, sondern ein Signal für Austauschbarkeit.


Was mich zur nächste Frage führt: Wenn ein Begriff weder Tiefe noch Status trägt: was bleibt dann noch übrig ausser sprachlicher Trägheit?



6) Ein Begriff, der nichts mehr erklärt.


Sprache lebt davon, dass sie unterscheidet. Worte öffnen Horizonte, weil sie etwas benennen, das sonst unbenannt bliebe. «Spiritualität» hatte einmal diese Funktion: Es war ein Gegenwort, ein Suchwort, ein Marker für eine andere Dimension.


Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich hier wiederhole: Heute wirkt «Spiritualität» wie eine abgenutzte Münze, die unzählige Male durch die Hände gegangen ist. Ihr Glanz ist verschwunden, die Prägung kaum mehr zu erkennen. Jeder kann «spirituell» auf sich anwenden, und gerade darin liegt das Problem: Wer alles einschliesst, schliesst am Ende nichts mehr aus.


So wird Spiritualität zur leeren Formel, die mehr über das Bedürfnis der Sprechenden verrät als über den Gegenstand selbst. Sie vermittelt das Gefühl von Tiefe, ohne noch etwas Konkretes zu sagen. Ein Wort, das einst den Anspruch hatte, Unsagbares zu berühren, ist zum Platzhalter geworden, dort, wo uns die Genauigkeit fehlt.


Man darf es nicht laut sagen, aber: Spiritualität erklärt nichts mehr. Sie ist eine Worthülse, die den Anschein von Bedeutung trägt, wo tatsächlich Leere herrscht.


Doch Sprache, die nicht mehr trägt, ruft nach Ersatz: Welche Begriffe könnten die Suche nach Sinn, Bewusstsein und Transzendenz heute klarer und präziser fassen?



7) Was wir brauchen, ist präzisere Sprache.


Wenn ein Begriff seine Kraft verliert, zeigt sich das nicht nur in seiner Beliebigkeit, sondern auch darin, dass er andere verhindert. «Spiritualität» ist zu einem Deckwort geworden, das an die Stelle konkreter Erfahrungen tritt. Und damit mehr verdeckt als offenlegt.


Doch die Fragen, die Menschen bewegen, sind nicht verschwunden. Wir suchen nach Methoden, mit unserem Bewusstsein zu arbeiten. Wir fragen nach Sinn in einer Welt, die komplexer wird. Wir ringen mit Erfahrungen, die uns übersteigen. All das verlangt Sprache, die nicht in Allgemeinplätzen verharrt, sondern differenziert.


Es gibt Alternativen: Kontemplation, wenn es um eine klare Übung der Aufmerksamkeit geht. Selbsterforschung, wenn wir den Blick nach innen richten. Bewusstseinspraxis, wenn wir methodisch mit Wahrnehmung und Präsenz arbeiten. Sinnarbeit, wenn es um existenzielle Orientierung geht. Solche Begriffe sind nicht nur präziser, sie sind auch robuster gegen Vereinnahmung durch Marketing und Lifestyle.


Spiritualität behindert inzwischen mehr, als sie erklärt. Was wir brauchen, ist eine Sprache, die schärfer denkt, tiefer benennt und zugleich offener bleibt für das, was wir noch nicht vollständig verstehen.


Doch auch das führt zu einer weiteren Zumutung: Denn wo präzisere Sprache gefordert ist, müssen wir auch bereit sein, uns von der Bequemlichkeit alter Gewohnheiten zu lösen.



8) Spiritualität als bequeme Ausflucht.


Spiritualität war immer auch ein Versprechen: dass es da draussen – oder tief in uns – eine grössere Ordnung gibt, die alles trägt. Ein Trost in einer Welt, die unübersichtlich, ungerecht und unvollkommen bleibt.


Ein Trost in dem auch eine Gefahr liegt. Denn oft dient Spiritualität weniger der Auseinandersetzung als der Ausflucht. Sie verwandelt harte Fragen in sanfte Formeln: «Alles geschieht aus einem Grund», «Du bist einzigartig», «Du wurdest geschickt, um eine Aufgabe zu erfüllen», «Das Universum hat einen Plan für dich.» Solche Sätze wirken tröstlich, weil sie Chaos in Ordnung verwandeln und Komplexität in Einfachheit übersetzen. Doch sie sind selten mehr als Abwehrmechanismen gegen die Zumutungen der Realität.


Die Bequemlichkeit, die darin liegt, ist verführerisch. Wer auf Spiritualität verweist, muss sich nicht mit Widersprüchen, Konflikten oder der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Das Wort verspricht Tiefe, wo tatsächlich Vereinfachung stattfindet.


Deshalb funktioniert Spiritualität oft als Trostformel und gerade darin nimmt sie uns die Chance, die wirklichen Zumutungen des Lebens zu konfrontieren.


Damit kommen wir zu einer weiteren Perspektive: Denn wenn ein Begriff zur Abwehr wird, was sagt das über den Umgang mit Wahrheit in unserer Kultur?



9) Spiritualität als Projektionsfläche.


Wo Spiritualität zur Trostformel wird, verwandelt sie sich unweigerlich auch in eine Projektionsfläche. Sie erlaubt uns, das Schwierige nach aussen zu verlagern: die «höhere Energie», die «kosmische Ordnung», die «spirituelle Kraft». Was uns überfordert, erhält einen Namen, der uns zugleich von Verantwortung entbindet.


Das Fremde wird in den Begriff verpackt und bleibt damit auf Abstand. Anstatt unsere eigenen Ängste, Triebe oder Widersprüche zu konfrontieren, verlagern wir sie in eine symbolische Sphäre. Spiritualität wird so zur Bühne, auf der wir unser eigenes Inneres aufführen, ohne es beim Namen nennen zu müssen.


Das Problem dabei ist nicht nur theoretisch. Es verhindert Entwicklung. Denn wo wir Projektionen pflegen, bleiben wir blind für das, was tatsächlich in uns geschieht. Spiritualität verschleiert mehr, als sie enthüllt, wenn sie zum Sammelbegriff für alles wird, was wir nicht tragen wollen.


Spiritualität ist weniger eine Öffnung zum Unbekannten als ein Spiegel unserer Verdrängungen. Sie gibt uns das Gefühl, tiefer zu blicken. Gerade indem sie uns davor bewahrt, wirklich hinzusehen.


Ich denke, es ist vorbei: Denn wenn das Wort nicht mehr trägt, wenn es nicht mehr unterscheidet, nicht mehr schützt und nicht mehr klärt: ist es dann nicht an der Zeit, es endgültig hinter uns zu lassen?



10) Spiritualität ist ein vergangenes Wort.


Es gibt Begriffe, die ihre Zeit hatten. Sie gaben Orientierung, weil sie das Unsagbare wenigstens andeuteten. «Spiritualität» war lange ein solcher Begriff. Er bot Menschen eine Sprache jenseits von Dogmen, eine Zuflucht für die Sehnsucht nach Tiefe, eine Brücke zwischen Alltäglichem und Geheimnis.


Doch Worte altern. Manche werden präziser, andere lösen sich auf. Spiritualität gehört zur zweiten Kategorie. Sie ist zu weit gedehnt, zu oft missbraucht, zu sehr vereinnahmt. Sie trägt nichts mehr, weil sie zu vieles tragen wollte.


Diese zehnte Wahrheit ist deshalb auch die letzte: Spiritualität ist ein vergangenes Wort. Es ist kein Schlüssel mehr, sondern eine Hülse. Kein Signal für Tiefe, sondern ein Echo aus einer Zeit, in der uns noch die Sprache fehlte, für das, was wir suchten.


Heute stehen uns andere Wörter zur Verfügung, die klarer, ehrlicher und mutiger sind. Wörter, die nicht so tun, als gäbe es eine Abkürzung. Wörter, die die Zumutung anerkennen, dass Sinn, Bewusstsein und Transzendenz nicht bequem sind, sondern Arbeit, Verantwortung und Auseinandersetzung verlangen.


Das Ende von «Spiritualität» ist daher kein Verlust. Es ist eine Einladung: die Suche präziser zu benennen, tiefer zu denken und wahrhaftiger zu sprechen.



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