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Salvatore Princi, Kommunikationstraining

10 Lügen über Macht, die wir immer noch glauben.

10 Lügen über Macht, die wir immer noch glauben.


Über Macht reden wir, als wüssten wir, was sie ist. Wir wiederholen Sprüche, die wie Naturgesetze klingen:


«Macht korrumpiert.»

«Geld ist Macht.»

«Wissen ist Macht.»


Sie geben uns Sicherheit und halten uns blind.


Doch die meisten dieser Sätze sind Lügen. Vereinfachungen, Ausreden und Mythen. Sie machen uns glauben, Macht sei dort oben, bei den anderen, unnahbar. Aber Macht ist immer da, wo wir selbst stehen: in unseren Routinen, in unseren Entscheidungen und in unserem Schweigen.


Wer Macht verstehen will, muss die Missverständnisse zerlegen. Nur dann zeigt sich, was sie wirklich ist: ein Geflecht aus Verführung, Verantwortung, Angst und Geschichten.


Hier sind 10 Lügen über Macht, die wir immer noch glauben, und die uns deshalb beherrschen.



1) «Macht korrumpiert – absolut.»


Das Zitat wird gern als Schicksalssatz verstanden. Dabei schrieb Lord Acton 1887: «Power tends to corrupt». Macht neigt zu korrumpieren. Eine Tendenz ist kein Naturgesetz.


Warum diese Nuance zählt:


Macht nimmt Reibung aus dem Alltag. Widerspruch wird leiser, Risiken werden andere, Belohnungen grösser. Um einen Mächtigen bildet sich ein Klima aus Höflichkeit, Vorteil und Angst. Nicht Macht selbst verdirbt, die fehlenden Gegenkräfte tun es.


Macht wirkt wie ein Verstärker. Was vorher an Anstand, Ehrgeiz oder Eitelkeit vorhanden war, wird lauter. Deshalb gibt es beides: den Amtsmissbraucher und die Person, die mit Einfluss Schutzräume schafft, Standards hebt und Verantwortung übernimmt. Der Unterschied? Transparenz, Grenzen, Feedback und Austauschbarkeit. Wo das fehlt, kippt die Tendenz ins Gesetz.


Macht ist kein moralischer Defekt, sondern eine Versuchung mit Vorzeichen. Ob sie verdirbt, entscheidet das System um sie herum. Und der Charakter, der sich darin bewegen muss.


Aber, wenn wir schon dabei sind: Wenn Macht zur Versuchung wird, was ist dann mit ihrem Gegenstück?



2) «Ohnmacht ist harmlos.»


Ohn-macht gilt als die unschuldige Schwester der Macht. Wer keinen Einfluss hat, könne auch keinen Schaden anrichten. So die gängige Annahme. Doch das ist ein gefährlicher Irrtum.


Denn Ohnmacht korrumpiert ebenso. Nur anders. Sie zerstört nicht von oben nach unten, sondern von innen nach aussen. Sie verwandelt Handlung in Resignation, Mut in Zynismus, Beteiligung in Sabotage.


Der machtlose Mitarbeiter, der alles laufen lässt, obwohl er Fehler erkennt. Der Bürger, der sich zurückzieht, weil «eh nichts zu ändern ist». Die Partnerin, die nicht mehr spricht, sondern schweigt und erkalten lässt. Ohnmacht ist nicht neutral. Sie ist Gift in Zeitlupe.


Der Philosoph Erich Fromm beschrieb das Phänomen als «Flucht vor der Freiheit». Wenn Menschen sich machtlos fühlen, suchen sie Ersatz: Unterordnung, blinden Gehorsam oder verdeckte Kontrolle. Ohnmacht schafft genauso Herrschaftsstrukturen, nur im Schatten.


Die Wahrheit, die nur wenige wahrhaben wollen: Nicht nur Macht verdirbt. Auch Ohnmacht tut es. Einfach leiser, subtiler, aber genauso zerstörerisch.


Und das führt zu einem Paradox: Wenn weder Macht noch Ohnmacht harmlos sind, wo verorten wir dann die Freiheit?



3) «Macht ist das Gegenteil von Freiheit.»


Das klingt nach einem klaren Gegensatz: Wer Macht hat, beschränkt die Freiheit anderer. Und wer frei sein will, muss sich von Macht fernhalten. Ein schöner Gedanke. Nur leider falsch.


Freiheit ohne Macht ist Illusion. Wer völlig machtlos ist, ist nicht frei, sondern ausgeliefert: den Umständen, den Launen anderer, den Regeln, die er nicht beeinflussen kann. Freiheit braucht Handlungsspielraum und dieser Raum entsteht erst durch Macht.


Die Philosophin Hannah Arendt hat das präzise formuliert: Freiheit zeigt sich nicht im Rückzug, sondern im Handeln. Und Handeln ohne Wirkung ist keine Freiheit, sondern Ohnmacht.


Natürlich kann Macht Freiheit zerstören, wenn sie missbraucht wird. Aber sie ist zugleich ihr Fundament. Erst wer Einfluss nehmen kann, wer gestalten darf, wer «Nein» sagen kann, ist wirklich frei.


Macht und Freiheit sind keine Gegensätze. Sie sind Zwillinge. Die eine zerstört ohne die andere, und die andere bleibt leer ohne sie.


Doch wenn Macht und Freiheit so eng verwandt sind, wo liegt sie dann eigentlich, die Macht?



4) «Macht liegt bei den Mächtigen.»


So stellen wir es uns gern vor: Die Mächtigen besitzen die Macht, alle anderen müssen gehorchen. Ein einfaches Bild: König und Untertan, Chef und Angestellte, Regierung und Volk. Aber so funktioniert Macht nicht.


Keine Herrschaft existiert aus sich selbst heraus. Sie lebt von Zustimmung, ob freiwillig oder erzwungen. Selbst der brutalste Diktator kann nicht allein herrschen. Er braucht Generäle, Beamte, Polizisten und Mitläufer. Er braucht Menschen, die mitmachen.


Michel Foucault beschrieb Macht deshalb als ein Geflecht von Beziehungen, nicht als Besitz. Sie entsteht überall dort, wo Menschen einander beeinflussen. Der «Mächtige» ist weniger Eigentümer, sondern mehr Knotenpunkt.


Die Illusion, Macht sei eine Sache «der da oben», macht uns bequem. Sie entlastet. Denn wenn Macht nur dort liegt, wo wir keinen Zugriff haben, müssen wir auch keine Verantwortung übernehmen.


Machen wir uns klar: Macht ist nie exklusiv. Sie existiert nur, solange andere mitspielen. Das Gefährliche ist nicht der eine Mächtige. Es ist das Netz, das ihn trägt.


Wenn Macht so sehr vom Mitspielen abhängt, was bedeutet sie dann eigentlich?



5) «Macht bedeutet Kontrolle.»


Das Bild ist vertraut: Macht heisst, andere zu lenken, zu befehlen, Grenzen zu setzen. Kontrolle über Verhalten, Worte und Entscheidungen. So definieren wir sie und bleiben dabei an der Oberfläche.


Denn die effektivste Macht braucht keine Kontrolle. Sie zwingt nicht, sie überzeugt. Sie schafft ein Klima, in dem Menschen glauben, aus freien Stücken zu handeln und doch genau das tun, was andere wollen.


Antonio Gramsci nannte das «kulturelle Hegemonie»: Macht wirkt am stärksten, wenn sie unsichtbar bleibt. Wenn ihre Regeln so selbstverständlich wirken, dass wir gar nicht merken, dass wir ihnen folgen.


Ein Befehl löst Widerstand aus. Aber eine «Selbstverständlichkeit»? Die wird kaum hinterfragt. So ist die sanfteste Macht oft die stabilste: Sie macht Menschen zu Mitgestaltern ihrer eigenen Unterordnung.


Die Wahrheit ist also offensichtlich: Macht ist weniger Kontrolle von aussen als Zustimmung von innen. Sie ist dann am grössten, wenn wir uns freiwillig in ihr bewegen.


Und genau hier lauert das nächste Missverständnis: Wir glauben, Macht zeige, wer jemand wirklich ist. In Wahrheit verändert sie den Menschen selbst.



6) «Macht zeigt den Charakter.»


Ja, das stimmt. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.


Es klingt nach einer moralischen Formel: Gib jemandem Macht, und du erkennst sein wahres Wesen. So zirkuliert es in Sprichwörtern, Management-Ratgebern und Feuilletons. Doch diese Sicht ist zu bequem.


Macht ist kein Spiegel, sondern ein Katalysator. Sie verstärkt, verschiebt und verändert. Sie entlastet von Widerständen, öffnet Räume, setzt neue Versuchungen frei. Was verborgen war, tritt hervor – ja. Aber: es bleibt nicht unverändert.


Der schüchterne Mitarbeiter, der plötzlich in einer Führungsrolle Härte zeigt. Die Idealistin, die sich an die Spielregeln des Systems anpasst. Der fürsorgliche Politiker, der sich von Zahlen, Terminen und Strategien verschlingen lässt. Macht enthüllt nicht einfach, sie formt.


Das macht sie so gefährlich, und gleichzeitig so wertvoll. Denn Macht zwingt zur Entscheidung: Will ich meine neuen Möglichkeiten zum eigenen Vorteil nutzen, oder erweitere ich den Raum auch für andere?


Macht offenbart nicht bloss den Charakter. Sie schreibt ihn um.


Was mich gleich zum nächsten missverständlichen Gedanken führt.



7) «Geld ist Macht.»


Es sind meist die, die kein Geld haben, die diesen Satz am festesten glauben. Für sie erscheint Geld als Schlüssel zu allem: Einfluss, Sicherheit und Freiheit. Und ja: solange Bedürfnisse drängen, solange Rechnungen Macht bedeuten, wirkt Geld wie die ultimative Währung.


Doch oberhalb einer bestimmten Schwelle verliert Geld diesen Status. Wer genug hat, dass kein Mangel mehr drückt, für den ist Macht längst ein ganz anderes Spiel. Geld wird zum Eintrittsticket, aber nicht zur Arena selbst.


Dort, wo die wirklich grossen Entscheidungen fallen, zählt Geld allein nicht mehr. Da zählen Netzwerke, Vertrauen und Narrative. Geld öffnet Türen, aber es garantiert nicht, dass man auch im Raum gehört wird und am Tisch Platz nehmen darf.


Geld ist nicht Macht, sondern nur der Anfang von ihr. Wer glaubt, Geld reiche aus, hat das Spiel noch nicht verstanden.


Wenn jetzt aber selbst Geld nicht genügt. Wie steht es dann mit Wissen?



8) «Wissen ist Macht.»


Francis Bacon prägte das Bonmot. Und seither geistert es durch Lehrbücher, Business-Seminare und Politik. Wissen als Schlüssel zur Welt. Doch so einfach ist es nicht.


Denn Wissen allein bedeutet wenig. Heute sind Informationen jederzeit verfügbar. Jeder trägt Bibliotheken in der Hosentasche. Macht entsteht nicht aus Wissen an sich, sondern aus dem Vorsprung: Wer etwas weiss, das andere nicht wissen. Oder wer Wissen so rahmt, dass es wirkt.


Darum geht es in der Praxis weniger um Wissen als um Deutungshoheit. Wer die Regeln der Interpretation setzt, formt Wirklichkeit. Darum fürchten Mächtige nicht das Wissen der Vielen, sondern dessen Organisation. Nicht die Information ist gefährlich. Sondern, wenn sie verständlich wird.


Wissen ist nur dann Macht, wenn es ungleich verteilt ist. Sobald alle es haben, wird es wertlos – ausser für den, der es deutet.


Und damit zum nächsten Irrtum.



9) «Macht gehört den Führern.»


So erzählt es uns die Geschichte: grosse Männer, grosse Frauen, Herrscher, Generäle und Präsidenten. Sie seien die Quelle der Macht, die alles bestimmen. Doch das ist ein Trugbild.


Kein Führer herrscht allein. Kein Diktator, keine CEO, kein Kanzler. Jeder Befehl, jedes Gesetz, jede Entscheidung lebt davon, dass andere sie ausführen. Beamte, Soldaten, Angestellte und Bürger. Ohne ihr Mitmachen verpufft jede Anordnung.


Hitler hätte ohne Mitläufer keine Lager gebaut. Stalin keine Säuberungen. Auch im Kleinen gilt das: Ein autoritärer Chef wird nur so mächtig, wie das Team bereit ist, seine Regeln zu tragen. Macht wächst nicht aus dem Führer, sondern aus der Masse, die folgt.


Das Missverständnis, Macht sei oben konzentriert, macht die vielen unten unsichtbar. Sie entlastet sie von Verantwortung: und genau das hält Systeme am Leben.


Die Wahrheit ist: Die wahren Träger der Macht sind nicht die Führer. Es sind die Mitläufer. Ohne sie ist jeder Mächtige ohnmächtig.


Bleibt also noch die letzte Illusion.



10) «Macht lebt von Stärke.»


Wir lieben das Bild: Panzer, Paläste und Körperkraft. Macht als rohe Stärke, die sich durchsetzt, solange sie härter, grösser und brutaler ist als der Widerstand. Aber das ist die grösste Illusion von allen.


Stärke hält nie lange. Jede Armee kennt ihre Niederlage, jeder Körper seine Schwäche, jede Diktatur ihren Zusammenbruch. Das, was Macht trägt, ist nicht Muskeln oder Waffen. Es ist die Geschichte, die sie erzählt – und die andere glauben.


Rom herrschte nicht nur mit Legionen, sondern mit dem Mythos seiner Unbesiegbarkeit. Kirchen hielten sich nicht durch Dogmen allein, sondern durch die Geschichte vom Heil. Heute sind es Narrative von Sicherheit, Fortschritt und Freiheit. Wer die Geschichte besitzt, besitzt den Gehorsam.


Das macht Macht zugleich stark und fragil. Sie zerbricht nicht, wenn Panzer fallen, sondern wenn ihre Geschichten nicht mehr tragen. Der Moment, in dem Menschen aufhören, sie zu glauben: das ist der wahre Sturz.


Macht lebt nicht von Stärke. Sie lebt vom Glauben. Wer die Geschichte verliert, verliert alles.



Macht ist kein fester Besitz. Sie ist ein Spiel, das ständig neu verhandelt wird. Zwischen Menschen, in Strukturen und in Erzählungen. Wer glaubt, sie sei einfach, hat schon verloren.


Die bequemsten Mythen über Macht sind nicht harmlos. Sie entlasten uns von Verantwortung.


«Die da oben» – das ist die Ausrede der Mitläufer.

«Geld ist Macht» – das ist der Trost der Machtlosen.

«Macht korrumpiert» – das ist die Ausrede der Ohn-mächtigen, die nichts ändern wollen.


Die Wahrheit ist härter: Macht lebt von uns. Von dem, was wir glauben, wovor wir Angst haben und was wir dulden. Wer das durchschaut, erkennt: Macht ist nie absolut, aber immer wirksam.


Und wer das nicht sehen will, bleibt ihr Spielball.

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