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Die Verwandlung – Eine Reise zur Wiederentdeckung der verlorenen Identität


Auf der Suche nach der verlorenen Identität

«Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch keinem einfallen zu fragen, warum die Welt da sei und gerade diese Beschaffenheit habe.» Arthur Schopenhauer

In Franz Kafkas Werk «Die Verwandlung» gibt es diese bemerkenswerte Szene gleich zu Beginn der Geschichte, in der Gregor Samsa aufwacht und feststellt, dass er sich über Nacht in ein riesiges Insekt verwandelt hat. In diesem Moment ringt er mit dem Schock seiner physischen Veränderung und versucht verzweifelt, Aspekte seiner menschlichen Identität festzuhalten, obwohl sein Körper nicht mehr derselbe ist.


Diese Verwandlung ist ein kraftvolles Bild für die Fragilität und Veränderlichkeit unserer Identität. Es zeigt uns, wie eng unser Selbstverständnis mit unserem physischen Dasein verknüpft ist und wie erschütternd es sein kann, wenn sich dieser Zusammenhang plötzlich auflöst.



Spieglein, Spieglein an der Wand …


Jeden Tag stehen wir auf und vollziehen den allmorgendlichen Gang zur Toilette. Der tägliche Blick in den Spiegel ist jedoch nicht nur der notwendigen Selbstpflege geschuldet, sondern ist auf einer tieferen Ebene eine rituelle Bekräftigung unserer Existenz. Es ist nämlich gleichzeitig auch ein subtiler Akt der Selbstaffirmation, der uns erkennen lässt, dass Identität eine ständige Neuverhandlung ist zwischen unserem inneren Selbst und der äusseren Welt.


Und auch im weiteren Verlauf des Tages, auf dem Weg zur Arbeit, wenn wir die Kinder zur Schule begleiten oder wir Einkäufe tätigen, mag ein flüchtiger Blick in die spiegelnde Oberfläche eines Schaufensters im ersten Moment aus einem Bedürfnis der Eitelkeit entspringen. Doch auch hier handelt es sich um mehr als nur um eine beiläufige Überprüfung des Äusseren. Es ist der Reflex einer Selbstfindung, eine unbewusste Suche nach Bestätigung unserer Existenz in der Hektik des Alltags.


In solchen kurzen Augenblicken der Selbstbetrachtung vollzieht sich ein komplexer Prozess der Selbstvergewisserung. Wir suchen nicht nur nach unserem Spiegelbild, sondern nach einer Bestätigung unserer Präsenz in der Welt. Es sind flüchtige Blicke, die uns als Ankerpunkte in unserer «Realität» dienen.



Identität ist Performance


Erst neulich habe ich mich dabei ertappt, wie mein Blick sich selbst im Spiegelbild eines Schaufensters gesucht hat. Im ersten Moment war dieser Impuls sicherlich meiner Eitelkeit geschuldet. Doch während ich mich selbst in dieser Reflektion suchte, erkannte ich gleichzeitig auch, dass ich dabei mein eigenes Narrativ über mich selbst betrachtete: Die Geschichte, die ich mir täglich über mich selbst erzähle.


Dabei erkannte ich über diesem Spiegelbild meiner Selbstbetrachtung einen Schatten des Zweifels. Ein Zweifel, der uns allen zuflüstert, dass die Geschichte, die wir uns selbst erzählen, nur eine von unzähligen Versionen ist. Wie ein Romanautor wählen wir ganz geschickt immer wieder Ereignisse aus, betonen einige Charakterzüge und lassen andere in den Hintergrund treten.


Erst ist in Momenten der Einsamkeit oder wenn wir mit unerwarteten Herausforderungen konfrontiert werden, kann diese Geschichte bröckeln und mit ihr die Fassade. Auf einmal können wir die Fragilität unserer selbst konstruierten Identität spüren. Es ist, als würden wir für einen Augenblick hinter die Kulissen unseres eigenen Theaterstücks blicken und erkennen, dass die Requisiten bloss aus Pappe sind und die Charaktere nur Rollen spielen.


Ganz im Sinne von William Shakespeare, der in Wie es euch gefällt durch die Figur Lord Jacques uns wissen lässt:

«Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Frauen und Männer blosse Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab.»

In der Tat, alles ist Bühne. Wir alle spielen Theater. Oder wie die Autorin Jia Tolentino den Soziologen Erving Goffman paraphrasiert: «Das Selbst ist kein festes, organisches Ding, sondern eine dramatische Wirkung, die aus einer Performance hervorgeht.» (*Quelle: Erzählende Affen, El Quasi & Karig, Ulstein Verlag)



Das Gruppenfoto – Schnappschuss unserer Identität


Kennst du das? Du bekommst ein Gruppenfoto zu sehen, und das Erste, was du tust, ist, dich selbst darauf zu suchen. Dein Blick huscht über die Gesichter, bis du dich entdeckst. Erst dann nimmst du die anderen wahr. Dabei tust du weit mehr als nur dein Aussehen zu überprüfen. Du bestätigst und aktualisierst unbewusst dein Selbstnarrativ – die Geschichte, die du über dich selbst erzählst und die den Kern deiner Identität bildet.


In dem Moment, in dem du dich auf dem Bild findest, aktivierst du eine ganze Reihe von Selbstwahrnehmungen und -bewertungen. Du überprüfst nicht nur, wie du aussiehst, sondern auch, wie du in Relation zu anderen stehst, welche Rolle du in der Gruppe einnimmst und ob dieses Bild mit deiner Selbstwahrnehmung übereinstimmt.


Dein Gehirn vergleicht blitzschnell das, was es sieht, mit dem gespeicherten Selbstbild. Passt das Foto zu der Person, die du glaubst zu sein? Bestätigt es deine Rolle in deinem sozialen Umfeld? Oder fordert es vielleicht dein Selbstverständnis heraus? Dieser Prozess ist ein wichtiger Teil deiner kontinuierlichen Identitätsarbeit. Denn wie ich bereits sagte, wir befinden uns in einer ständigen Neuverhandlung zwischen unserem inneren Selbst und der äusseren Welt.


Diese Selbstüberprüfung kann dein Narrativ entweder verstärken oder in Frage stellen. Siehst du dich so, wie du dich sehen möchtest, bestärkt das deine Identität. Entdeckst du hingegen Diskrepanzen, kann das leichte Irritationen oder sogar eine Mini-Identitätskrise auslösen.


Dieses Phänomen des Gruppenfotos zeigt, wie eng unsere visuelle Selbstwahrnehmung mit unserem psychologischen Selbstkonzept verwoben ist. Es verdeutlicht, dass unsere Identität keine feste Grösse ist, sondern ein dynamisches Konstrukt, das ständig durch neue Eindrücke und Erfahrungen geformt und umgeformt wird.


Hinzu kommt, indem du dich im Kontext der Gruppe siehst, definierst du auch gleichzeitig deine soziale Identität. Du überprüfst unbewusst, ob du «dazugehörst», ob du die Rolle einnimmst, die du dir zuschreibst, ob du im Vergleich zu anderen «gut dastehst».



Mehr als nur Eitelkeit


Oberflächlich betrachtet, scheint es sich hier im ersten Moment um nichts anderes als um ein eitles Verhalten zu handeln. Auf einer tieferen Ebene ist es jedoch ein faszinierender Mikrokosmos deiner Identitätsarbeit. Es zeigt, wie du dich ständig neu verortestst, dein Selbstbild überprüfst und deine Geschichte über dich selbst fortschreibst. Es ist ein kleiner, aber bedeutsamer Akt der Selbstbestätigung und Selbstaktualisierung.


Dass wir diesen Prozess der Selbstfindung auf die Eitelkeit reduzieren, ist in diesem Kontext lediglich eine Vereinfachung für die vielschichtigen psychologischen Mechanismen, die dabei ablaufen. Wir greifen auf «Eitelkeit» zurück, weil es ein leicht verständliches Konzept ist, das oberflächlich zu passen scheint. In Wirklichkeit jedoch fehlt uns oft das Vokabular und das psychologische Verständnis, um die subtile Identitätsarbeit wahrzunehmen und zu beschreiben, die in diesem Moment stattfindet. Begriffe wie «Selbstnarrativ», «Identitätskonstruktion» oder «soziale Selbstverortung» sind nicht Teil unseres alltäglichen Sprachgebrauchs. Ohne diese Konzepte fällt es uns schwer, die tiefere Bedeutung unseres Verhaltens zu erfassen und zu artikulieren.


Zudem laufen viele dieser Prozesse unbewusst ab. Unser Gehirn verarbeitet eine Fülle von Informationen und Emotionen in Sekundenbruchteilen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir spüren vielleicht ein vages Gefühl von Zufriedenheit oder Unbehagen, können aber nicht genau benennen, woher es kommt oder was es bedeutet.


Diese mangelnde Bewusstheit und fehlende Sprache führen dazu, dass wir komplexe psychologische Vorgänge vereinfachen. «Eitelkeit» wird somit zu einer Kurzformel für etwas, das in Wirklichkeit ein faszinierendes Zusammenspiel von Selbstwahrnehmung, sozialer Kognition und Identitätsformation ist.


Anstatt uns für unsere vermeintliche Eitelkeit zu verurteilen, sollten wir also vielleicht eher anerkennen, dass wir ständig damit beschäftigt sind, unseren Platz in der Welt zu finden und zu bestätigen. Das schafft viel mehr Empathie sowohl für uns selbst, wie auch im Umgang mit anderen. Denn es ist ein zutiefst menschlicher und verletzlicher Prozess, der unsere Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Selbstverständnis und Konsistenz widerspiegelt.



Das Selfie der Selbstsuche


Das Selfie, oft als Inbegriff moderner Selbstdarstellung und Narzissmus kritisiert, gewinnt in diesem Licht eine komplexere Dimension. Es ist nicht nur ein digitaler Spiegel unserer Eitelkeit, sondern auch hier ein Werkzeug der Selbstvergewisserung und Identitätssuche.


In jedem Selfie steckt der Versuch, einen flüchtigen Moment unserer Existenz festzuhalten und zu bestätigen. So wie die spiegelnde Oberfläche eines Schaufensters dient auch das Selfie als ein digitaler Anker in der Realität, als Beweis unserer physischen Präsenz in einer Welt, die immer mehr von virtuellen Räumen dominiert wird.


Gleichzeitig benutzen wir das Selfie auch als Werkzeug der Neuerschaffung. Wir wählen bewusst, wie wir uns präsentieren wollen, welchen Aspekt unserer vielfältigen Identität wir in den Vordergrund stellen. Jedes Selfie wird so zu einer visuellen Erzählung unseres Selbst.


Diese ständige Selbstdokumentation birgt auch Risiken. Oft erleben wir die echten Momente des Lebens nur noch indirekt durch die Linse unseres Smartphones. Wir haben zwar das Konzertticket erworben, um live mit dabei zu sein, aber die Veranstaltung betrachten wir vor Ort dennoch durch ein Display, das zwischen uns und dem Event selbst steht. Wir beobachten das Bild vom Bild. Das  Bild wird so zum Symbol einer Gesellschaft, die ständig zwischen der Illusion eines unmittelbaren Erlebens und der fotografischen Selbstdarstellung hin- und hergerissen ist.


Worte wie auch Bilder sprechen ihre eigene, vielschichtige Sprache. Ein Selfie ist mehr als nur ein Schnappschuss, es ist eine Form der Kommunikation, die stets ein Ziel verfolgt. Mit jeder geteilten Aufnahme konstruieren wir unser Selbstbild und suchen Bestätigung unserer Identität. In seiner tiefsten Bedeutung ist das Selfie ein Versuch, die Flüchtigkeit des Moments zu überwinden. Es schafft eine Illusion von Kontrolle und Beständigkeit in einer unsicheren und unkontrollierbaren Welt. Es ist ein pixelgewordener Ausdruck der ewigen menschlichen Suche nach dem eigenen Ich, ein digitales Manifest unserer Existenz.


Zugegebenermassen kann dieses Manifest manchmal ungesunde Züge annehmen, wenn das Selfie zur digitalen Selbstbefriedigung wird und die Grenze zwischen Selbstdarstellung und Selbsttäuschung verschwimmt. Doch selbst in dieser Verzerrung spiegelt sich ein zutiefst menschlicher Impuls: der Wunsch, die eigene Existenz zu bestätigen und in einer überwältigenden Welt nicht unterzugehen.


Jean Baudrillard schrieb einmal:

«Vielleicht sind unsere Augen nur ein leerer Film, der uns nach unserem Tod entnommen wird, um anderswo entwickelt und als unsere Lebensgeschichte in einem höllischen Kino vorgeführt zu werden.»

Wieviel Identität braucht ein Mensch?


Ohne jeden Zweifel, eine starke und selbstbewusste Identität kann äusserst hilfreich und förderlich sein, da sie eine klare Vorstellung von den eigenen Werten, Überzeugungen und Zielen vermittelt. Menschen mit einer gefestigten Identität haben oft ein höheres Selbstvertrauen, was ihnen hilft, Herausforderungen zu meistern und sich in sozialen und beruflichen Kontexten sicher zu bewegen. Sie sind in der Lage, ihre Meinungen und Bedürfnisse klar zu kommunizieren und lassen sich weniger leicht von äusseren Einflüssen verunsichern.


Andererseits jedoch, eine zu starre und unflexible Identität kann auch zur Gefahr werden. Wer an einem unveränderlichen Selbstbild festhält, kann Schwierigkeiten haben, sich an neue Situationen oder veränderte Lebensumstände anzupassen. Was durchaus zu Intoleranz gegenüber anderen Meinungen und Lebensweisen führen kann, da sie als Bedrohung für das eigene Selbstbild wahrgenommen werden.


Aber machen wir uns nichts vor. Wer in dieser Welt funktionieren will, wird ohne eine Identität nicht sehr weit kommen. Ohne eine klare Identität, ohne ein gefestigtes Selbstbild können wir uns verloren und unsicher fühlen, da uns ein innerer Kompass fehlt. Wir sind anfälliger für äussere Einflüsse und können Schwierigkeiten haben, eigene Entscheidungen zu treffen oder unsere Grenzen zu setzen. Das Ergebnis davon ist Orientierungslosigkeit und ein Mangel an Selbstwertgefühl. Damit bleiben wir wirkungslos und bekommen die Krise.



Identitätskrise


Manch einer hat schon eine Identitätskrise durchlebt, weil die Umstände sich so drastisch geändert haben, dass das Narrativ der eigenen Geschichte sich nicht mehr aufrecht erhalten lässt. Wenn ein Mensch unvermittelt mit einem einschneidenden Ereignis konfrontiert wird – sei es der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes, ein unerwarteter Schicksalsschlag, eine schmerzhafte Trennung, ein schwerwiegender Verlust oder eine niederschmetternde Diagnose – so wird das fast unweigerlich zu einer tiefgreifenden Erschütterung seines Daseins führen. Das Fundament der eigenen Existenz beginnt zu bröckeln, und das sorgsam konstruierte Selbstbild gerät ins Wanken.


Diese Erschütterung rührt daher, dass die gewohnte «Feedback-Schleife», die unsere Identität stetig bestätigt und nährt, abrupt unterbrochen wird. Unser Selbst, das wir über Jahre hinweg aufgebaut und gepflegt haben, basiert auf einer Vielzahl von Annahmen, Routinen und Beziehungen. Wenn diese plötzlich in Frage gestellt oder gar unverhofft zerstört werden, entsteht ein Vakuum der Unsicherheit.


In diesen Momenten der Krise wird deutlich, wie fragil unser Selbstkonzept tatsächlich ist. Was wir für unumstössliche Wahrheiten über uns selbst hielten, erweist sich als wandelbar und anfällig für äussere Einflüsse. Diese Erfahrung ähnelt dem bösen Erwachen von Gregor Samsa, der sich plötzlich in der Gestalt eines Insekts wiederfindet – ein radikaler Bruch mit allem Vertrauten und Selbstverständlichen. Völlig schockiert, überfordert und hoffnungslos ist er gezwungen, mit diesem neuen Umstand zurechtzukommen. Gregor Samsa durchlebt im wahrsten Sinne des Wortes eine Identitätskrise. Und genauso wie Samsa, der sich plötzlich in einem fremden Körper wiederfindet, erleben wir alle in existenziellen Krisen eine tiefgreifende Entfremdung von unserem bisherigen Selbst. Die gewohnte Perspektive auf die Welt wird fundamental erschüttert.



Das Ich als Zentrum meines Universums


Die komplexe Beziehung zwischen unserem Ich-Gefühl und der Welt, die uns umgibt, hat Albert Camus einmal folgendermassen treffend formuliert:

«Das Leben verlieren ist keine grosse Sache; aber zuschauen, wie der Sinn des Lebens aufgelöst wird, das ist unerträglich.»

Unser Selbst, jenes Konstrukt, das wir als unser ureigenes Ich wahrnehmen, ist untrennbar mit den äusseren Umständen verwoben, in denen wir uns befinden. Diese Umstände – seien es gesellschaftliche Strukturen, zwischenmenschliche Beziehungen oder globale Ereignisse – entziehen sich oft unserer direkten Kontrolle. Dennoch bilden sie das Gerüst, an dem wir unser Selbstbild aufhängen.


Damit schaffen wir eine Abhängigkeit von externen Faktoren, die unser Ich-Gefühl gleichzeitig robust aber eben auch fragil macht. Robust, weil es sich aus vielfältigen Quellen nährt und dadurch eine gewisse Stabilität gewinnt. Fragil, weil eine fundamentale Erschütterung unserer Umwelt auch unser Selbst ins Wanken bringen kann.


Unser Selbstbild steht und fällt somit mit unserem Weltbild. Es gibt kein Ich ohne Bedingungen von aussen. Die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und interpretieren, formt unmittelbar unser Verständnis von uns selbst. Wenn sich unser Weltbild durch einschneidende Erfahrungen oder Erkenntnisse verändert, kann das zu einer tiefen Krise des Selbst führen.


Es ist diese Verbindung, die erklärt, warum der Verlust des Lebenssinns, wie Camus es ausdrückt, so unerträglich sein kann. Es ist nicht nur ein abstraktes Konzept, das verloren geht, sondern ein effektiver wesentlicher Teil unseres Selbst, der in Frage gestellt wird. Und wenn die Welt, wie wir sie kennen und verstehen, sich auflöst oder grundlegend verändert, verlieren wir nicht nur unsere Identität und unseren Platz in ihr, sondern auch einen gewissen Sinn des Lebens.


Die Herausforderung besteht also darin, ein Selbstbild zu entwickeln, das flexibel genug ist, um Veränderungen in unserem Weltbild zu verkraften, ohne dabei seine Kernessenz zu verlieren. Wir müssen uns bemühen, ein Ich zu kultivieren, das zwar im Zentrum unseres persönlichen Universums steht, aber dennoch in der Lage ist, sich an die ständig wechselnden Konstellationen dieses Universums anzupassen.


Bleibt nur noch die Frage: Wie soll das gehen?



Nimm dich nicht zu ernst


Die Welt wird von Kräften bewegt, die sich nicht messen lassen (Morgan Housel). Und doch glauben überwiegend viele von uns, die Kontrolle in ihrem Leben zu haben.


In seinem Buch «Determined: A Science of Life Without Free Will» vertritt Robert Sapolsky die These, dass Menschen keine echte Kontrolle über ihre Entscheidungen haben. Stattdessen argumentiert er, dass unsere Entscheidungen und Handlungen durch eine Vielzahl von biologischen, genetischen, hormonellen, kulturellen und umweltbedingten Faktoren bestimmt werden. Sapolsky zeigt in seinen Arbeiten auf, dass unsere sogenannten Entscheidungen oft das Ergebnis einer Kette von Einflüssen sind, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen.


Ich führe hier seine These nicht deswegen an, um darüber zu diskutieren, ob wir einen «freien Willen» besitzen oder nicht, sondern um uns bewusst zu machen, dass vieles, was unsere Identität definiert von Faktoren beeinflusst wird, über die wir keine Kontrolle haben und deren Zustandekommen wir oft nicht einmal verstehen.


So etwas hören wir nicht gerne. Das zieht uns den Boden unter den Füssen weg. Menschen wollen weder Zuversicht noch Hoffnung, Menschen wollen Gewissheit. Unsere Identität gibt uns ein Stück weit diese Gewissheit, deswegen versuchen wir sie mit allen Kräften und Mitteln zu verteidigen, wenn sie in Frage gestellt wird. Diese Verteidigung unserer Identität bietet uns ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit in einer ansonsten unberechenbaren Welt. Aber gerade diese Starrheit kann uns hindern, flexibel auf neue Erfahrungen und Veränderungen zu reagieren und uns weiterzuentwickeln, wenn unser Weltbild ins Wanken gerät. Und wie heisst es so schön: Das einzig gewisse ist die Ungewissheit. Daher ist es hilfreich, sich etwas mehr zu entspannen und sich selber nicht allzu ernst zu nehmen.


Diese Haltung ist keine Einladung zur Gleichgültigkeit. Vielmehr ist sie eine Aufforderung zur Verantwortung und Engagement – Verantwortung für unser Wachstum und unsere Anpassungsfähigkeit, Engagement unsere Rollen anzunehmen. Es ist eine Haltung, die Mut und Akzeptanz voraussetzt: den Mut, die Dinge zu akzeptieren, die nicht in unserer Kontrolle liegen, und die Weisheit, zwischen dem, was wir beeinflussen können, und dem, was ausserhalb unserer Kontrolle liegt, zu unterscheiden. Sich selber nicht zu ernst zu nehmen, bedeutet ständig anzuerkennen, dass man mit seinen Meinungen, Ideen und Überzeugungen spektakulär falsch liegen kann und deswegen die Bereitschaft hat, sich vom Leben überraschen zu lassen – im Guten wie im Schlechten.


Nimmt man diese Haltung ernst – sich selber nicht allzu ernst zu nehmen – ist man eher bereit, die Tatsache zu akzeptieren, dass das Leben nicht da ist, um uns einen Sinn zu bieten, sondern umgekehrt. Das fördert eine Demut und Offenheit, die uns ermöglicht, flexibel auf neue Situationen zu reagieren und aus jeder Erfahrung zu lernen. Anstatt starr an einem Selbstbild festzuhalten, können wir uns kontinuierlich weiterentwickeln und an den Herausforderungen des Lebens wachsen. Dadurch schaffen wir eine Identität, die sowohl stark als auch anpassungsfähig ist und uns erlaubt, authentisch und resilient zu sein.



Wähle deine Masken weise


Trotz unserer Bedeutung für uns selbst, sind wir letztlich alle nur kleine Akteure auf der grossen Bühne des Universums. Wir alle spielen Theater. Unser Ich ist eine Performance, die aus unterschiedlichen Rollen besteht. Und dieses «Ich» trägt viele Masken.


«Masken» sind ein integraler Bestandteil unseres Lebens. Sie sind nicht unbedingt eine Täuschung, sondern vielmehr ein Ausdruck der verschiedenen Facetten unseres Charakters und unserer Fähigkeit, uns an unterschiedliche Umgebungen und Situationen anzupassen. Sie sind machtvolle Instrumente unserer kreativen Veränderungsfähigkeit. Wahre Authentizität ist nicht maskenlos, sondern im Gegenteil, sie trägt ihre Masken sogar ganz bewusst. Denn die Authentizität liegt in erster Linie nicht in der oberflächlichen Gestalt der Maske selbst, sondern in der Absicht und Bedeutung, die wir unseren Handlungen geben.


Selbst das Wort «Persönlichkeit» lässt sich von der Bezeichnung «Persona» ableiten, was in der Antike der Inbegriff für «Maske» war. Mit «Persona» war nämlich die Maske gemeint, die Schauspieler trugen, um verschiedene Rollen darzustellen. Und so wie die Menschen in der Antike ihre «Persona» nutzten, um verschiedene Charaktere, Identitäten und Emotionen auf der Bühne zum Leben zu erwecken, nutzen wir alle unsere Masken, um unterschiedliche Aspekte unserer Persönlichkeit zu enthüllen und zu entwickeln.


Jeder von uns trägt täglich Masken, bewusst oder unbewusst. Und in jeder Maske steckt eine Facette deiner Persönlichkeit, eine Rolle, die du spielst. Und jede dieser Rollen trägt zur Gesamtheit dessen bei, wer du bist. Deine Masken sind eine Erweiterung deiner selbst, ein Mittel, um deinen Charakter zu formen und deine Geschichte zu erzählen. Also frage dich selbst: Welche Masken wähle ich ganz bewusst? Wie repräsentieren sie meine innersten Werte und Ziele? Wie helfen sie mir, zu der Person zu werden, die ich sein möchte?


Indem du deine Masken akzeptierst und meisterst, akzeptierst und meisterst du dich selbst. Das bedeutet, dass du dir deiner Rollen und ihrer Wirkung bewusst bist und sie mit deinen Werten und Zielen in Einklang bringst. Dadurch gewinnst du nicht nur ein tieferes Verständnis von dir selbst, sondern auch die Fähigkeit, flexibel und anpassungsfähig durch das Leben zu gehen – ohne dich dabei allzu ernst zu nehmen.


Und vergiss dabei nicht: Die bewusste Wahl deiner Masken bedeutet auch, dass du dadurch lernst, die Masken anderer zu erkennen und zu respektieren. Wir lernen dadurch, dass jeder seine eigenen Masken trägt, oft aus ähnlichen Gründen wie wir selbst.



Dein Wendepunkt


Das Wort Krise bedeutet in seinem ursprünglichen Sinn Wendepunkt oder Entscheidung. In der antiken Medizin wurde der Begriff verwendet, um den entscheidenden Moment in einer Krankheit zu beschreiben, an dem sich zeigt, ob der Patient sich erholen wird oder nicht.


Krisen sind unvermeidlich und sie kommen immer zum unpassendsten Zeitpunkt. Gregor Samsa hatte auch nicht damit gerechnet, eines Morgens unverhofft aufzuwachen und sich in der Gestalt eines Käfers wieder zu finden.


(Achtung «Spoiler»)


Seine «Identitätskrise» nimmt leider einen tragischen Verlauf. Er bleibt in seiner Insektengestalt gefangen und wird zunehmend von seiner Familie isoliert und vernachlässigt. Auch seine Schwester, die sich anfangs noch um ihn kümmerte, wendet sich schliesslich von ihm ab. Gregor Samsa verliert nach und nach seinen Appetit und seine Kraft. Am Ende stirbt er in seiner Insektengestalt, einsam und von seiner Familie entfremdet, die durch seinen Tod endlich Erleichterung findet.


Kafkas Erzählung endet also nicht mit einer «Rückverwandlung» oder sonstigen Erlösung für Gregor Samsa. In einer Identitätskrise gibt es nie eine Erlösung im Sinne einer Rückverwandlung. Es gibt nur Veränderung. Wir können nicht zu dem zurückkehren, was wir vorher waren, denn die Erfahrung selbst hat uns bereits verändert. Die Krise wird zeigen, ob es eine Veränderung sein wird, die für den Betroffenen zur Erneuerung führt oder eben nicht. Ob es ein Wendepunkt ist, bei dem der Patient sich erholen wird oder nicht. Oder in den Worten von Franz Kafka:

«Ab einem bestimmten Punkt gibt es keine Möglichkeit zur Rückkehr mehr. Dies ist der Punkt, der erreicht werden muss.»

Gregor Samsas fehlende Rückverwandlung zeigt jedoch, wie radikal sich das Leben eines Menschen manchmal verändern kann und wie schwierig es für die Umgebung sein kann, mit solch drastischen Veränderungen umzugehen.


Anstatt auf eine Rückkehr zum Alten zu hoffen, sollten wir den Mut finden, das Neue zu akzeptieren und daraus unsere neue Identität zu formen. Anfangs gleicht der Schmerz des Verlusts einem reissenden Strom, der uns fortzuspülen droht. Wie ein Ertrinkender klammern wir uns an ein Stück Treibholz unserer zerbrochenen Vergangenheit, verzweifelt nach dem vertrauten Ufer Ausschau haltend. Doch in unserem Kampf gegen die Strömung übersehen wir oft, dass jede Welle uns näher an ein neues, unbekanntes Ufer trägt.


Die Verwandlung unseres Selbst ist kein sanfter Spaziergang, sie ist eine Odyssee voller Umwege und Prüfungen. Sie verlangt von uns, das Vertraute loszulassen und das Ungewisse zu umarmen. Jede Veränderung, so schmerzhaft sie auch sein mag, bietet die Möglichkeit, eine tiefere und wahrhaftigere Version von uns selbst zu entdecken.


Ja, ich weiss, das sagt sich so einfach. Das ist kein einfacher Weg – für niemanden. Aber es ist der einzige Weg nach vorne. Es ist der Weg zu deinem persönlichen Wendepunkt.



 

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